Ein Goldklumpen
Cornelia Lüdecke berichtet über deutsche Polarexpeditionen
Mit dieser Monografie hat sich der Verlag wie Mister Tarwatter in Jack Londons Erzählung »Argonauten alter Zeit« einen Goldklumpen aus dem moosigen Alltag des (Verlags)Geschäfts hervorgeklaubt. Niemand kann kompetenter über Polarexpeditionen, ihre politischen Hintergründe und den oft abenteuerlichen Verlauf schreiben als Cornelia Lüdecke. Sie leitet seit 1991 den Arbeitskreis Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung und hat sich selbst in Polargebieten umgesehen. Selbst die Fangemeinde wird überrascht sein von der Vielzahl an Informationen, Dokumenten und Fotografien, die in noch keinem anderen Polarbuch zu sehen und zu lesen waren.
Den meisten Raum in ihrem Buch nehmen die drei großen Expeditionen unter Erich von Drygalski (1901 bis 1903), Wilhelm Filchner (1911/12) und Alfred Ritscher (1938/39) ein. Heutzutage muten die kühnen Reisen der Pioniere und deren Auswertung wie Kapitel einer Vorgeschichte an. Aber so zeitfern sind sie gar nicht. Erich von Drygalski ist 1949 in München gestorben, Wilhelm Filchner 1957 in Zürich, Alfred Ritscher 1963 in Hamburg.
Am 11. August 1901 verließ das ganz aus Holz gebaute Forschungsschiff »Gauss«, ein Dreimastschoner mit Hilfsmotor, Kiel. Die Bauweise der »Gauss« trug sowohl den erwarteten Eispressungen Rechnung als auch einer wichtigen Forschungsaufgabe: magnetischen Messungen, die auf Stahlschiffen damals noch nicht möglich waren. Die Expedition brauchte sechs Monate bis zu dem Tag, an dem Drygalski notieren konnte: »Wir haben das Land.« Es wurde auf den Namen Kaiser-Wilhelm-II. getauft. Wenige Stunden später war die »Gauss« im Eis eingefroren. Die Mannschaft musste sich etwa 80 Kilometer vor der Küste auf die Überwinterung einstellen. Von dieser Position wurden mehrere Schlittenzüge mit Po- larhunden auf das Inlandeis unternommen. Ein Höhepunkt: Die Entdeckung des später so genannten »Gaussberges«, eines Basaltkegels, der von Drygalski genau vermessen wurde und an dem der Geologe Emil Philippi endlich an Krustengestein herankam.
Die Expedition war außerordentlich erfolgreich. Drygalski hatte als Order das Prinzip »der verantwortungsvollen Entscheidungen an Ort und Stelle für jeden innerhalb seines Gebietes« ausgegeben. Das hat die Teilnehmer erheblich motiviert. Die Ergebnisse wurden in zwanzig Bänden und zwei Atlanten veröffentlicht.
Die zweite deutsche Antarktisexpedition, die der durch seine Asienforschungen bekannte Offizier Wilhelm Filchner leitete, stand unter keinem guten Stern. Wilhelm II. war wenig begeistert von einer neuen, teuren Reise weit außerhalb seiner kolonialen Interessen. Die Expedition musste privat finanziert werden, teilweise aus den Erträgen einer Lotterie. Besonders belastend waren ehrgeizige Scharmützel unter den Crew-Mitgliedern, die sogar in Duellforderungen mündeten. Auf der Rückfahrt kam es zu einer regelrechten Meuterei gegen Filchner.
Es ist hinreißend, wie konzentriert und dennoch lebensprall Cornelia Lüdecke die elementaren Widerwärtigkeiten der Expeditionen und die persönlichen Kontroversen schildert. Das gilt nicht weniger für die unter nationalsozialistischen Vorzeichen startende Ritscher-Expedition mit dem Katapultschiff »Schwabenland«, von deren Flugbooten Markierungspfeile und Hakenkreuzflaggen abgeworfen wurden, um spätere Gebietsansprüche geltend zu machen.
Nach dem Krieg betraten als erste deutsche Polarforscher Potsdamer Meteorologen wieder antarktisches Terrain. Ab 1959 nahmen DDR-Wissenschaftler mit eigenen Programmen an sowjetischen Expeditionen teil. 1976 leitete Hartwig Gernandt den Aufbau einer Containerstation in der Schirmacher-Oase, in jenem Sektor, wo die RitscherExpedition operiert hatte. Um 1979 stieg die Bundesrepublik mit weit größerem finanziellen Rückhalt in die Antarktisforschung ein. Das Alfred-WegenerInstitut in Bremerhaven wurde gegründet, der moderne Forschungseisbrecher »Polarstern« gebaut. 1981 begann die Montage der aus großen Röhren bestehenden Georg-von-Neumayer-Station auf dem EkströmSchelfeis.
Während das Kapitel über die DDR-Wissenschaftler ziemlich knapp geraten ist und die spartanische Bildauswahl vermuten lässt, dass die Autorin über weniger Kontakte in diese Richtung verfügt, sind die Aktivitäten der westdeutschen Kollegen etwas detaillierter dargestellt. Die sich erweiternden Forschungsprogramme auf wenigen Seiten zu beschreiben, ist schier unmöglich, aber diese Publikation gibt einen äußerst sachkundigen Einblick.
Cornelia Lüdecke: Deutsche in der Antarktis. Ch. Links. 220 S., geb., 30 €.