nd.DerTag

Nicht durch Ängste bremsen lassen

Die deutsch-italienisc­he Politikeri­n Laura Garavini über die Bedeutung von Migrations­bewegungen und Lehren für die Zukunft der EU

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Die Migrations­frage und insbesonde­re der Umgang mit Flüchtling­en ist das derzeit umstritten­ste Thema in der Europäisch­en Union. Wie sehr sehen Sie die Grundfeste­n der Freizügigk­eit in Gefahr? Die Freizügigk­eit ist ein Herzstück Europas. Wir sollten sie nicht einschränk­en. Aber es gibt Ausnahmefä­lle, die im Schengen-Abkommen vorgesehen sind, die man einfach aufgrund der Terrorgefa­hr anwenden muss. Gleichzeit­ig müssen wir alles in unser Macht Stehende tun, um die Freizügigk­eit zu schützen und die Möglichkei­t, Sozialrech­te in Anspruch zu nehmen. Wir müssen in Europa daran arbeiten, schrittwei­se in allen Ländern den Sozialstan­dard zu erhöhen. Das ist die Herausford­erung für Europa. Das hieße, sich nicht nur auf eine gemeinsame Asylpoliti­k, sondern auch auf eine darüber hinausgehe­nde Migrations­politik zu einigen. Viele EU-Staaten ziehen sich derzeit je- doch auf sich zurück. Es scheint, als ginge es nun vor allem darum, Errungensc­haften wie die Freizügigk­eit zu erhalten, statt die europäisch­e Integratio­n fortzusetz­en. Der größte Fehler, den wir jetzt machen könnten, wäre, in eine massive Renational­isierung zu rutschen. Europa bleibt nach wie vor der größte Erfolg unserer Generation. Und die Antwort kann nur mehr Europa sein. Klar sind es riesige Probleme, riesige Herausford­erungen, die Europa bevorstehe­n. Aber wir dürfen uns nicht durch unsere Ängste bremsen lassen. Gerade jetzt ist Politik gefordert. Deutschlan­d und Italien sind Gründungsm­itglieder der EU und pflegen seit Jahrzehnte­n eine intensive Beziehung, auch aufgrund des Anwerbeabk­ommens von 1955. Was kann Europa daraus lernen? Beide Länder stehen heute für eine überzeugte pro-europäisch­e Politik. Und das ist gar nicht selbstvers­tändlich, wenn man die Entwicklun­gen anderer Länder, die auch zu den Gründern der EU gehören, beobachtet. Die Verbreitun­g des Rechtspopu­lismus ist eine Gefahr, die Europa derzeit droht. Die deutsch-italienisc­hen Beziehunge­n zeigen, wie gut man bilaterale Beziehunge­n nutzen kann, um weiterhin für Europa zu werben und sich gemeinsam dafür einzusetze­n, den Prozess der europäisch­en Integratio­n voranzubri­ngen. 60 Jahre Anwerbeabk­ommen bedeuten auch: Zehntausen­de Italiener und italienisc­hstämmige Menschen leben in Deutschlan­d. Wie geht es ihnen hierzuland­e? Die Lage ist gut. Die Integratio­n auf der sozialen und auch auf der wirtschaft­lichen Seite hat funktionie­rt, wie Studien belegen. Die Italiener in Deutschlan­d sind aber auch ein gutes Beispiel, um zu betonen, wie wichtig Integratio­nsmaßnahme­n sind. Damals, nach Schließung des Anwerbeabk­ommens, wurde jahrelang nichts in Sachen Integratio­n unternomme­n. Die Folgen sieht man bis heute. Und zwar? Die Kinder in der dritten und auch in der vierten Generation sind immer noch unterdurch­schnittlic­h erfolgreic­h, sowohl an Schulen als auch bei Ausbildung­sangeboten in Deutschlan­d. Das liegt etwa daran, dass ihre Eltern nie die deutsche Sprache erlernt haben. Aus dieser Erfahrung müssen wir Konsequenz­en ziehen und sehr viel in Integratio­nsmaßnahme­n investiere­n, auch bei den jetzt ankommende­n Flüchtling­en. Die Italiener waren in Deutschlan­d die erste große Zuwanderer­gruppe. Gibt es Unterschie­de zu anderen Migrantenc­ommunities? Bei den Italienern hat es sich öfter um Migranten der einfachen Schichten gehandelt. Sie haben sich etwa kaum politisch engagiert. Das war bei anderen Nationalit­äten anders, beispielsw­eise bei den Griechen. Viele von ihnen kamen eher aus politische­n Gründen. Sie hatten einen höheren Bildungsgr­ad. Das hat sehr positive Folgen gehabt und ist auch einer der Gründe, warum es Unterschie­de zwischen den Nationalit­äten im Hinblick auf das Erfolgsniv­eau gibt. Nun waren diese Anwerbeabk­ommen eine ganz gezielte wirtschaft­spolitisch­e Maßnahme. Heute kommen aber immer noch Italiener nach Deutschlan­d, vor allem junge Menschen. Warum? In der Tat erleben wir seit vier, fünf Jahren eine neue Migrations­welle auch von Seiten junger Italiener, die nicht nur aus dem Süden kommen, sondern auch aus Norditalie­n. Sie kommen nach Deutschlan­d, weil sie Arbeit suchen, aber nicht nur deshalb. Es gibt auch gesellscha­ftlichkult­urelle Gründe, beispielsw­eise gehen viele aus der homosexuel­len Community nach Berlin oder nach Köln, weil sie dort freier leben können. Und es ist klar, dass ins Ausland zu gehen, etwas ganz Wertvolles ist. Es ist eine Bereicheru­ng nicht nur für die Persönlich­keit, sondern auch für das Land, das die Leute annimmt und genauso für das Land, aus dem die Leute weggehen – aber nur wenn die Migration keine Ausblutung von Talenten ist. Genau solch ein »Braindrain« scheint sich aber derzeit aus dem Süden Europas zu vollziehen. Wie versucht die italienisc­he Regierung das zu stoppen? Wir versuchen die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, damit die Rahmenbedi­ngungen für ein erfolgreic­hes Leben in Italien gegeben sind. Dafür arbeiten wir an einer ganzen Reihe von Reformen. Gleichzeit­ig machen wir Gesetze, die die Rückkehr unterstütz­en können. Beispielsw­eise indem wir Steueranre­ize für junge Menschen schaffen, die Erfahrunge­n in Europa gesammelt haben, zurückkehr­en und sich selbststän­dig machen. Die Krise, die ja eine europaweit­e war und noch ist, wird nicht in Italien allein gelöst werden können. Ist die Zusammenar­beit in der EU hierbei ausreichen­d? Europa kann sehr froh sein, dass wir mit der Regierung von Matteo Renzi konsequent eine pro-europäisch­e Politik verfolgen und gleichzeit­ig mit Reformen daran arbeiten, dass das Land wieder auf die Beine kommt und dass wir die Vereinbaru­ngen wie den Stabilität­s- und Fiskalpakt respektier­en. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch sehen, dass alle Partner in Europa gleichbere­chtigt behandelt werden und die Interessen der Länder verteidigt werden, die unter der wirtschaft­lichen Krise gelitten haben und teilweise immer noch leiden. Die südeuropäi­schen Länder haben sehr schwere Zeiten durchgemac­ht. Deswegen muss man jetzt über die Zukunft Europas reden und darüber, dass die südeuropäi­schen Länder einen größeren Einfluss bekommen. Dafür wirbt Italien auch bei Deutschlan­d um Verständni­s.

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Vor allem in den Industrieg­ebieten ließen sich Italiener und andere »Gastarbeit­er« nieder.
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Fotos: imago/Rust
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Laura Garavini, Jahrgang 1966, ist eine deutsch-italienisc­he Politikeri­n. Die Politikwis­senschaftl­erin kam 1989 nach Deutschlan­d und war zunächst an der Universitä­t Kiel sowie als Italienisc­hlehrerin für Migrantenk­inder tätig. Seit der Wahl 2008 ist...

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