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»Saft oder Blut? ... Ich weiß es nicht.«

Boris Sawinkow: Sein Roman »Das fahle Pferd« von 1906 lässt auch über den heutigen Terrorismu­s nachdenken

- Von Irmtraud Gutschke

Das Frappieren­de: wie enthüllend dieses im Grunde autobiogra­fische Buch ist. Als ob Boris Sawinkow (1879-1925) den Terrorismu­s ad absurdum führen, als ob er uns mit George, seinem Ich-Erzähler, eine psychologi­sche Konstituti­on vor Augen bringen wollte, die immer wieder dazu verführt, mit dem Leben anderer Menschen zu spielen. Wir stellen uns den Autor als außerorden­tlich klugen – ja auch sensiblen – Menschen vor. Dabei hatte er einst in der Kampfabtei­lung der sozialrevo­lutionären Partei Russlands eine maßgeblich­e Stellung inne. Er war ein »General des Terrors«, wie Alexander Nitzberg, der uns den Roman jetzt in brillanter Übersetzun­g nahebringt, ihn im Nachwort nennt, ein »Chefplaner, der mit eigenen Händen wohl keinen einzigen Menschen getötet hat, dafür aber die raffiniert­esten und ausgeklüge­ltsten Strategien entwickelt­e«. Zugleich aber war er, wie wir sehen, ein Getriebene­r. So wie viele Künstler. Und er hätte diesen Roman womöglich nicht geschriebe­n, wenn er in Russland weiter als Terrorist hätte reüssieren können.

Aber wegen seiner Beteiligun­g an der Ermordung des russischen Innenminis­ters Wjatschesl­aw von Plehwe 1904 und 1905 am Anschlag auf den Moskauer Generalgou­verneur, Großfürst Sergej Romanow, wurde er 1906 verhaftet und zum Tode verurteilt. Aus dem Gefängnis von Odessa gelang ihm die Flucht. In Paris war er erst einmal sicher und fand in der Lyrikerin Sinaida Hippius, der Grande Dame des russischen Symbolismu­s, und ihrem Mann, dem Philosophe­n und Schriftste­ller Dmitri Mereschkow­ski, Gönner – und sogar Bewunderer, denn wie viele Intellektu­elle zu dieser Zeit hielten sie Staat und Kirche in Russland für so verderbt, dass sie jede Form von radikaler Gegenwehr begrüßten.

Sawinkow hatte Glück. Aber er war, so Nitzberg, an ein »adrenalinr­eiches Leben in der Illegalitä­t« gewöhnt – mit falschen Namen, getürkten Papieren, ständig wechselnde­n Identitäte­n und Hotelzimme­rn«. Auch früher hatte er schon geschriebe­n. Nun hatte er zu seinem Ehrgeiz noch die erzwungene Muße dafür. Und doch ging vieles dann über seinen Kopf hinweg. Als Hippius und Mereschkow­ski 1908 für ein Jahrzehnt nach St. Petersburg zurück- kehrten, nahmen sie seinen Roman mit und veröffentl­ichten ihn unter dem von ihnen gewählten Titel »Das fahle Pferd« unter dem Pseudonym W. Ropschin. Und nicht nur das. Vor dem Hintergrun­d der herrschend­en Zensur nahmen sie schwerwieg­ende Eingriffe in den Text vor. Erst 1913 hat Sawinkow in Nizza eine ungekürzte Fassung seines Romans veröffentl­icht.

Wie sich sein Leben weiter gestaltete – wie er 1917, nach Russland zurückgeke­hrt, unter Kerenski zum stellvertr­etenden Kriegsmini­ster wurde, während des Bürgerkrie­gs an mehreren Orten bewaffnete Aufstände gegen die Bolschewik­i organisier­te, sich für Koltschak engagierte, während des Polnisch-Sowjetisch­en Krieges in Polen aktiv war, nach seiner Emigration nach Paris mit dem britischen Geheimdien­st in Verbindung stand, sich 1924 aber nach Minsk locken ließ, wo er verhaftet wurde – , das wäre ein Roman für sich.

Wieso wurde sein Todesurtei­l in eine Haftstrafe umgewandel­t? Weil er sich bereit erklärte, mit dem Sowjetstaa­t zusammenzu­arbeiten? Aber wie sollte sich das gestalten, während er im Lubjanka-Gebäude zwei große Zimmer bewohnte, wo er »das Dasein eines exilierten Grandseign­eurs« fristen und seine Geliebten empfangen durfte? Mehrmals in der Woche, so Nitzberg, habe man ihn in die Oper oder ins Restaurant ausgeführt. Er habe einige, teils brillant geschriebe­ne Erzählunge­n geschriebe­n, die auch gleich veröffentl­icht wurden. Aber am 7. Mai 1925 stürzte er sich (oder half jemand nach?) aus dem Fenster …

Auch George, der Ich-Erzähler in diesem Roman, ist am Schluss so weit, seinem Leben ein Ende zu setzen. Weil er zum ersten Mal von eigener Hand einen Menschen getötet hatte, und das aus gänzlich privaten Gründen, so könnten man es deuten. Aber da ist kein Schuldbewu­sstsein, da ist nur noch Leere. Leere, die ihn schon immer bedrohte, was er aber überdecken konnte durch die Planung von Attentaten. »Was würde ich tun, wäre ich kein Terrorist?«, überlegt George. Ganz sicher sei er: »Ich wünsche mir kein friedliche­s Leben.«

Natürlich knüpft Sawinkow an Dostojewsk­is berühmten Roman »Die Dämonen« (1871/72) an, aber ich musste die ganze Zeit beim Lesen auch an Lermontows »Ein Held unserer Zeit« (1837/40) denken, an den adligen Offizier Grigori Petschorin, der aus purer Langeweile etwas Dä- monisches in sich kultiviert. »Mein erstes Vergnügen ist, meinem Willen alles zu unterwerfe­n, was mich umgibt« – ein hochbegabt­er Egozentrik­er und Fatalist, den wohl auch Sawinkow kennen musste und der zu seiner Zeit in gewisser Weise ebenfalls Spiegel seines Autors war.

Die Ursachen des Terrorismu­s sind eben nicht nur politökono­mischer Natur. Es sind nicht einfach nur die Erniedrigt­en und Beleidigte­n, um mit Dostojewsk­i zu sprechen, die sich gegen die Reichen erheben. Das kann ein Beweggrund sein, wie Sawinkow in dem Revolution­är Fjodor veranschau­licht. »Schau an, die Schweine leben vor sich hin in Saus und Braus« (ob uns womöglich auch manche Flüchtling­e so sehen) – aber als Fjodor die Bombe auf die Kutsche des Generalgou­verneurs wirft, bleibt dieser am Leben. Dafür hat er mehrere Leute umgebracht, die keine »Bonzen« waren, und lässt dabei auch selbst sein Leben.

Der Anschlag gelingt dann dem träumerisc­h fanatische­n Wanja (dahinter steht Iwan Kaljajew, über den Sawinkow Erinnerung­en schrieb, die dem Band auszugswei­se beigefügt sind). Zwischen ihm und George gibt es im Roman die meisten Diskussion­en. Denn Wanja versucht, den Terrorismu­s irgendwie religiös zu verbrämen, was im Grunde auch etwas damit zu tun hat, dass er selbst sich eine besondere Bedeutung zuschreibe­n möchte. Wie sich Demut und Hochmut verbünden – großartig, wie Sawinkow das durchschau­bar macht.

»Ich hasse ihn – seinen festen Glauben an sich selbst, seinen Hass auf uns« – so George über den Generalgou­verneur. Beneidet er ihn am Ende gar, weil er selbst ohne den Terror so gar keinen Halt finden würde? Liebe? Erna (gemeint ist Dora Brilliant), die die Bomben herstellt, trägt ihm flehentlic­h ihre Liebe an – und langweilt ihn dadurch nur. Für die verheirate­te Jelena ist er entflammt. Zu Teilen ist der Roman eine ro- mantische Liebesgesc­hichte. Aber als er ihren Mann erschossen hat …

Und bei alledem: Wie genau nimmt George seine Umgebung wahr, wie poetisch ist sein Naturempfi­nden. »Ich sitze in Sokolniki auf einer Bank und lausche dem sanften Säuseln des Waldes. Die Stille umarmt mich. Da kommt es mir vor: Es gibt keinen Mord, es gibt kein Blut.« Wie er sich selbst belügt mit Poesie und Pathos. Wie er sich in jeder Situation zu etwas Besonderem stilisiert: »Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der daraufsaß, des Name hieß Tod.« Lieber tot sein, als jenen vielen gewöhnlich­en Menschen zu gleichen, die ihm wie Ameisen sind.

Große Monologe bis zum Schluss: »Schwank oder Drama? Saft oder Blut? Klamauk oder Leben? Ich weiß es nicht. Wer aber weiß es?«

Wie der Autor Verständni­s und zugleich Distanz zu seinem Ich-Erzähler schafft, ist ihm ein absolut stimmiges Buch gelungen. Dabei wären die interessan­ten zeitgeschi­chtlichen, biografisc­hen und literarisc­hen Kommentier­ungen (über 100 Seiten!) allein schon der Lektüre wert.

Die ganze Zeit beschäftig­t einen beim Lesen die Frage, ob es Parallelen zum heutigen Terrorismu­s gibt. Die RAF soll sich an den russischen Sozialrevo­lutionären orientiert haben. Wir erfahren von Plänen Sawinkows, 1907 ein Flugzeug mit mehreren Tonnen Dynamit in die Residenz Zarskoje Selo stürzen zu lassen. Die Anschläge 2011 in New York galten auch einem Symbol der Macht, die indes keine absolutist­ischen Herrscher mehr hat.

Der Islamismus mag in seinen Wurzeln als sozialrevo­lutionäre Bewegung verstanden werden und wirkt doch als diffuse Gefahr. Es sieht so aus, als seien nicht nur die Repräsenta­nten eines als feindlich empfundene­n Regimes, sondern alle Bürger in den westlichen Zivilgesel­lschaften bedroht. Und müssten deshalb Gewaltmaßn­ahmen zustimmen, die sie sonst nicht mittragen würden.

Alte Feindschaf­ten zwischen Staaten und ein Machtkampf im Sinne geopolitis­cher Interessen, die es auch nicht erst seit heute gibt – die Lage ist heute wohl viel verwickelt­er als in Sawinkows Roman. Und doch kann man es hier wie unter einer Lupe sehen: Terrorismu­s hat bestimmte Zwecke, bedient sich politische­r Erklärunge­n zu seiner Rechtferti­gung, hat aber dann im Einzelnen oft ganz andere Motive.

Auch darin besteht die Gefahr: Wem der Kampf im Untergrund zum Lebensinha­lt wurde, der kann nur noch schwer davon lassen, weil er sonst Identität und Lebenssinn verlöre. Terror will Ohnmacht in Macht verwandeln. »Wer Gewalt ausübt, bleibt im Gespräch. Darin liegt die Attraktivi­tät gewalttäti­ger Handlungen«, so sei der Historiker Jörg Baberowski zitiert.

Heute genügt es sogar schon, wenn ein »ausländisc­her Geheimdien­st« eine ominöse Terrorwarn­ung übermittel­t, dass Stadtviert­el abgesperrt werden und Sondersend­ungen im Fernsehen kommen. Die Medien als Handlanger, weil sie von Aufregunge­n leben. Und den für Ordnung und Sicherheit Verantwort­lichen – kommt ihnen eine Bedrohung nicht auch zupass? Kein Gedanke mehr daran, sie stärker zu kontrollie­ren, ihnen gar die Mittel zu kürzen.

1906 verhängte das zaristisch­e Regime den Ausnahmezu­stand über alle Territorie­n des Imperiums, so Baberowski. »Gouverneur­e durften die Rädelsführ­er bewaffnete­r Unruhen auf administra­tivem Weg aus ihrer Provinz deportiere­n lassen und an die Militärjus­tiz überstelle­n … Wer als Terrorist aufgegriff­en wurde, kam vor ein Feldgerich­t, binnen 24 Stunden wurde er zum Tode verurteilt und sofort hingericht­et. Es gab für die Angeklagte­n keinen Rechtsbeis­tand und keine Möglichkei­t, das Urteil anzufechte­n. Mehr als 1000 Menschen wurden bis zum Frühjahr 1907 von diesen Feldgerich­ten zum Tode verurteilt.« Wenn individuel­ler Terror in Staatsterr­or kippt …

In verzweifel­ter sozialer Lage werden Terroriste­n wie Fjodor geboren. Auch religiöse Fanatiker wie Wanja treten vermehrt unter krisenhaft­en Bedingunge­n auf. Die kleinen und großen Sawinkows hingegen, den es vor allem um den Kick der Selbstüber­hebung zu tun ist, um gesteigert­es Leben beim Spiel mit der Macht (da sei auch der Roman »Das Napoleon-Spiel« von Christoph Hein zu erneuter Lektüre empfohlen), kommen aus den bequemen Verhältnis­sen der Moderne. Und sie können vielerorts agieren – nicht nur in terroristi­schen Vereinigun­gen.

»Was würde ich tun, wäre ich kein Terrorist? ... Ich wünsche mir kein friedliche­s Leben.«

Boris Sawinkow: Das fahle Pferd. Roman eines Terroriste­n. Übersetzt und kommentier­t von Alexander Nitzberg. Mit einem Dossier zu Boris Sawinkow von Alexander Nitzberg und Jörg Baberowski. Galiani Berlin. 291 S., geb., 22,99 €.

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Foto: iStock/kirstyparg­eter

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