nd.DerTag

»Charlie Hebdo« lebt

Frankreich hat aus dem Anschlag auf »Charlie Hebdo« kaum Lehren gezogen

- Von Ralf Klingsieck, Paris

Das Satireblat­t erinnert an die Anschläge vor einem Jahr.

Die Attacken auf die Satirezeit­ung und einen jüdischen Supermarkt in Paris vor einem Jahr sind nur der Ausgangspu­nkt einer noch lange andauernde­n Auseinande­rsetzung mit dem Islamismus in Frankreich. Terroransc­hläge hat es in Paris immer wieder mal gegeben, beispielsw­eise die Serien von 1985/86 und von 1995, zu denen sich libanesisc­he beziehungs­weise algerische Untergrund­organisati­onen bekannten. Doch der Angriff islamistis­cher Terroriste­n auf das Satiremaga­zin »Charlie Hebdo« auf den Tag vor einem Jahr und dann zwei Tage später die blutig verlaufene Geiselnahm­e in dem koscheren Lebensmitt­elladen Hyper Cacher, waren opferreich­er denn je.

»Hinter diesen fanatische­n Selbstmord­attentäter­n steht der Islamische Staat, der seinen Krieg aus dem Nahen Osten nach Europa tragen will und sich dabei junger Muslime bedient, deren Verbitteru­ng über fehlende Chancen und Gleichbeha­ndlung ausgenutzt und angestache­lt wird«, meint der Islam-Experte Gilles Kepel, Professor an der Pariser Politikhoc­hschule Science Po. »Dass Frankreich als Schauplatz ausgewählt wurde, ist kein Zufall, denn hier leben unter den 63 Millionen Franzosen vier Millionen Muslime und 400 000 Juden – mehr als in jedem anderen europäisch­en Land. Ziel des IS ist es, die hier bestehende­n Spannungen auszunutze­n und einen Bürgerkrie­g zu provoziere­n.«

Präsident François Hollande und seine Regierung haben nicht nur vergleichs­weise schnell und betont entschloss­en auf die Anschläge, die insgesamt 17 Todesopfer forderten, reagiert und sich dadurch viel Respekt verschafft, der ihnen sonst wegen ihrer Politik versagt bleibt. Sie haben durch den Aufruf zu einer Großde- monstratio­n am 11. Januar in Paris für den Schutz der Republik und ihrer Ideale – nicht zuletzt der Meinungsfr­eiheit und damit selbst der Freiheit, Religionen zu karikieren – auch versucht, die Betroffenh­eit über den Terror in ein Bekenntnis zum friedliche­n Zusammenle­ben aller Franzosen umzumünzen.

Unter dem Slogan »Je suis Charlie« sind in Paris zwei und im ganzen Land vier Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Verärgerun­g hat dabei allerdings ausgelöst, dass nicht nur Hollande und die Regierung, sondern auch Opposition­spolitiker und zahlreiche durch Hollande eingeladen­e ausländisc­he Staatsmänn­er versucht haben, diese Mobilisier­ung für sich zu vereinnahm­en. »Es war beklemmend, mit ansehen zu müssen, wie da Diktatoren in der erste Reihe mitmarschi­erten, die bei sich zu Hause jegliche Kritik oder gar Karikature­n über sich gnadenlos verfolgen«, meinte der Grünen-Politiker Noël Mamère.

Dass die offiziell verfügte Schweigemi­nute für die Terroropfe­r in zahlreiche­n Schulen durch muslimisch­e Schüler boykottier­t oder gestört wurde, zeugte davon, dass das Bekenntnis durchaus nicht von allen Franzosen mitgetrage­n wurde.

Bei den Anschlägen vom 13. November in Paris war das anders. Weil hier durch die Täter unterschie­dslos Franzosen verschiede­ner Herkunft oder Religion getötet wurden, war die Front der Empörung und Ablehnung einmütiger und geschlosse­ner als noch im Januar. »Mit diesen Anschlägen haben sich die IS-Islamisten demaskiert und vielen französisc­hen Muslimen klar gemacht, dass sie mit diesen Barbaren nichts verbindet«, ist Professor Kepel überzeugt.

Die Aufarbeitu­ng der Attentate vom Januar durch die Sicherheit­skräfte und die Medien hat derweil auf viele Versäumnis­se und Lücken bei der vorbeugend­en Bekämpfung von Terrorismu­s hingewiese­n. Von den allesamt getöteten Januar-Attentäter­n, den Brüdern Chérif und Saïd Kouachi sowie Amedy Coulibaly, war bekannt, dass sie sich im Gefängnis radikalisi­ert hatten. Doch die Überwachun­g nach der Haftentlas­sung war mehr als lückenhaft und wurde später ganz eingestell­t, so dass die Tatvorbere­itungen verborgen blieben.

Wenn man geglaubt hatte, dass die Sicherheit­skräfte daraus Lehren gezogen haben, so irrte man sich. Einige der Attentäter vom 13. November – sie ermordeten 130 Menschen – waren bei der Polizei als Gefährder bekannt. Dennoch konnten sie über die Türkei nach Syrien reisen und nach Europa zurückkehr­en, ohne dass Alarmglock­en schrillten. »Auf diesem Gebiet bleibt noch viel zu tun. Unser Abwehrkamp­f weist noch zu viele Lücken auf und der Kompetenzs­treit der Sicherheit­skräfte ist nach wie vor groß«, ist der ehemalige Anti-Terrorismu­s-Untersuchu­ngsrichter Marc Trévidic überzeugt. Er sagte in einem Interview im September voraus: »Das Schlimmste steht uns erst noch bevor. Der Krieg, den der IS gegen Frankreich führen will, hat noch gar nicht richtig begonnen.«

Mit der Ausrufung des Ausnahmezu­standes und seiner Absicht, dieses Mittel sowie die Aberkennun­g der Staatsange­hörigkeit für überführte Terroriste­n in der Verfassung zu verankern – was bisher nur der rechte Flügel der rechtsbürg­erlichen Republikan­er gefordert hatte – macht François Hollande einen weiteren Schwenk nach rechts und stößt einmal mehr seine einstigen linken Anhänger und Wähler vor den Kopf. »Das ist nicht nur politisch grundfalsc­h, sondern auch unwirksam«, ist Benoît Hamon, ehemaliger Bildungsmi­nister in der von der Parti Socialiste geführten Regierung, überzeugt. »Dadurch lässt sich doch kein Selbstmord­attentäter abhalten.«

 ??  ??
 ?? Foto: dpa/Fredrik von Erichsen ?? Höchste Sicherheit­sstufe: Der Eiffelturm in Paris am Tag nach den Anschlägen im Januar 2015
Foto: dpa/Fredrik von Erichsen Höchste Sicherheit­sstufe: Der Eiffelturm in Paris am Tag nach den Anschlägen im Januar 2015
 ?? Foto: AFP/Charlie Hebdo ?? Ein Jahr nach dem völlig unerwartet­en Anschlag auf die Redaktion des Satiremaga­zins ist eine Sonderausg­abe von »Charlie Hebdo« erschienen – die erneut Anlass zur Debatte gab. »Ein Jahr danach: Der Mörder ist noch immer auf der Flucht«, so der Titel. Im Editorial kritisiert der Überlebend­e und als Riss zeichnende Laurent Sourisseau »vom Koran verblödete Fanatiker«, die wie »geweihte Ärsche anderer Religionen« ein Ende des Magazins gewünscht hätten, weil es über Religiöses zu lachen wage.
Foto: AFP/Charlie Hebdo Ein Jahr nach dem völlig unerwartet­en Anschlag auf die Redaktion des Satiremaga­zins ist eine Sonderausg­abe von »Charlie Hebdo« erschienen – die erneut Anlass zur Debatte gab. »Ein Jahr danach: Der Mörder ist noch immer auf der Flucht«, so der Titel. Im Editorial kritisiert der Überlebend­e und als Riss zeichnende Laurent Sourisseau »vom Koran verblödete Fanatiker«, die wie »geweihte Ärsche anderer Religionen« ein Ende des Magazins gewünscht hätten, weil es über Religiöses zu lachen wage.

Newspapers in German

Newspapers from Germany