nd.DerTag

Ferne Gefährten

Joachim Esberg hinterließ berührende Verse

- Von Wolfgang Hübner Joachim Esberg: Nun wisst ihr, was soll es bedeuten. Gedichte und Briefe vor Auschwitz. Appelhans Verlag, Braunschwe­ig. 159 S., geb., 14,80 €.

Vom Schicksal Joachim Esbergs hätte die Öffentlich­keit kaum nennenswer­te Notiz genommen, hätte nicht sein Tagebuch in einer Schublade Jahrzehnte überdauert. Wäre nicht dieses Tagebuch irgendwann Joachim Esbergs Cousin Gerhard Schulze in die Hände gefallen. Und hätte der nicht Wege gesucht und gefunden, Esbergs Zeitdokume­nt historisch Interessie­rten zugänglich zu machen.

Die Cousins, die einander nie begegneten, sind ferne Gefährten. Als Esberg im Vernichtun­gslager Auschwitz starb, war Schulze noch ein Schulkind. Er erlebte in seiner Familie, was die gnadenlose Judenverfo­lgung der Nazis bedeutete. Seine Mutter war Jüdin. Auch Joachim Esberg wuchs in einer jüdischen Familie auf, einer Pferdehänd­ler-Dynastie in Wolfenbütt­el. Schon vor Hitlers Machtantri­tt begannen in Wolfenbütt­el die organisier­ten Angriffe gegen Juden. Die Familie ging schließlic­h nach Belgien, ließ sich in Gent nieder, wo der Vater Geschäftsp­artner hatte und sich einen Neubeginn erhoffte. Joachim schloss die Schule ab und schrieb sich an der Universitä­t ein, für Germanisti­k und Philosophi­e.

In dieser Zeit kaufte er ein Notizheft und führte darin Tagebuch. In Gedichtfor­m. Seine Gedanken, Gefühle fasste er in Verse; alles, was junge Menschen eben bewegt. Aber immer öfter schrieb er bald über seine Angst vor erneuter Verfolgung. Verse wie dieser häuften sich: »Tat etwa ich, wie man nicht tut? / Bin ich nicht, was ihr alle seid: / Ein Mensch voll seiner Menschlich­keit? / Ach, ich vergaß – bin ja ein Jud’.«

Die Nachrichte­n aus der Heimat wurden immer düsterer, und irgendwann drohte der Einmarsch der Wehrmacht nach Belgien. Das geschah tatsächlic­h im Mai 1940; Esberg kam nicht mehr dazu, sich für das nächste Studienjah­r zu immatrikul­ieren. Er wurde in Gent von den deutschen Besatzern verhaftet, erst in ein französisc­hes Internieru­ngslager und schließlic­h nach Auschwitz deportiert. Dort verlor sich seine Spur. Auf seinem Grabstein in Wolfenbütt­el steht: »Im KZ umgekommen«.

Gerhard Schulze, der bei Leipzig lebt, hat seit der Wende in der DDR vor 25 Jahren viel Familienfo­rschung betrieben. Das Schicksal seines Cousins Joachim hat ihn nicht losgelasse­n; erst recht nicht, nachdem er das Tagebuch erhalten hatte. Er wandte sich an das »neue deutschlan­d«, wo Ende 2012 eine Reportage über die Geschichte des Joachim Esberg erschien. Dieser Text ist nun Teil eines Buches, das Wolfenbütt­eler Regionalhi­storiker herausgege­ben haben. Enthalten sind ein weiterer Zeitungste­xt aus dem »Zeit-Magazin«, Recherchen über die Geschichte der Juden in Gent und die Familie Esberg. Und vor allem natürlich Esbergs ergreifend­e Gedichte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany