Im Paralleluniversum
Mit aggressiver Rhetorik und vielen bekannten Versatzstücken bastelt die AfD an ihrer ganz eigenen Wirklichkeit
Thüringens AfD-Vorsitzender Björn Höcke wird zum Beispiel auf Demonstrationen seiner Partei immer wieder verbal ausfällig. Dahinter steckt Kalkül.
Björn Höcke weiß, was die Menschen, die vor ihm stehen, von ihm erwarten. Wenn Höcke den Vertretern der – im AfD-Sprech – »Altparteien« vorwirft, »das deutsche Volk« zugrunde zu richten, dann rufen sie ihm immer wieder entgegen: »Volksverräter!«, »Widerstand!«, »Lügenpresse!«, »Merkel muss weg!«. Seit Monaten geht das in Erfurt so. Wenn die Thüringer AfD zu ihren Demonstrationen in die Landeshauptstadt aufruft, kommen vor allem mittelalte Menschen längst nicht nur aus Erfurt, um Höcke zu hören und Parolen zu skandieren. Je krasser seine Angriffe unter anderem gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel sind, desto zufriedener ist die Menschenmenge.
Dass Höcke auf der ersten AfD-Demonstration in Erfurt in diesem Jahr erneut verbal auf das Heftigste gegen Merkel ausgeteilt hat, haben die AfDAnhänger deshalb nicht überraschend mit zufriedenen Rufen quit- tiert. Ein paar Meter vor der Bühne, auf der Höcke als letzter Redner des Abends sprach, hatten schon vor dem offiziellen Beginn der Kundgebung mehrere Männer damit begonnen, ein Transparent hochzuhalten, auf dem stand: »Angela muss weg«. Das Transparent hatten ihre Macher auch mit Judensternen bemalt. Höcke hatte nicht nur gesagt, Deutschland werde »von Idioten« regiert. Er hatte Merkel persönlich zu einer Irren erklärt. Sie müsse in »einer Zwangsjacke« aus dem Kanzleramt geführt werden, hatte er gesagt.
Vertreter der »Altparteien« mögen solche persönlichen, das Gegenüber erniedrigenden Angriffe als nicht angemessen empfinden. Ebenso wie viele Menschen in Deutschland das tun. Nicht zufällig ist Höcke immer wieder angezeigt worden, wenn er sich irgendwo ausfallend geäußert hatte: nach seinem SchnuffeltuchAuftritt in der Talkshow Günther Jauch zum Beispiel; nachdem seine Afrika-Rede öffentlich geworden war.
Für Höcke und die AfD allerdings sind solche Attacken Teil ihres politischen Kalküls: So etwas auf einer Demonstration zu sagen und als Argument in einer politischen Auseinandersetzung zu nutzen, bricht nämlich ein kleines Tabu. Und genau darum geht es der selbst ernannten »Alternative für Deutschland« ja nach eigenem Bekunden: die politische Kultur der Bundesrepublik grundsätzlich verändern; Dinge sagbar zu machen, die bislang nicht sagbar waren. In diesen Grenzüberschreitungen sonnen sich Höcke und die AfD. Ihre Botschaft: Schaut her, wir sagen die Wahrheit, die Wahrheit, über die in den vergangenen Jahrzehnten von den Altparteien und von der Lügenpresse der Mantel des Schweigens gehüllt wurde.
Wie unsinnig aber solche Behauptungen immer wieder sind, darauf haben im Nachgang der AfrikaRede Höckes unter anderem Biologen hingewiesen; darauf dass die AfD nämlich regelmäßig keine verborgene Wahrheit offenlegt, sondern sich ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Welt, ihre eigene Wirklichkeit erschafft – egal, was wissenschaftlich und wahr ist, abhängig nur davon, was man sich bei der AfD als wahr wünscht.
Nachdem Höcke behauptet hatte, die Art vieler Afrikaner Kinder zu bekommen, bedrohe Europa, und er diese These mit einer aus der Biologie stammenden Theorie begründet hatte, stellte ein Biologe in der »Neuen Zürcher Zeitung« klar: Diese wissenschaftliche Theorie sei überhaupt nicht auf Menschen übertragbar. Was Höcke aber eben trotzdem in voller Absicht getan habe. In den Worten des Biologen: »Björn Höcke ist kein Dummkopf und er gibt sich auch nicht so. Er will mit seinen Aussagen gehört und ernst genommen werden. Und um das zu erreichen, bedient er sich des Deckmantels der Wissenschaft, um seinen verqueren Thesen zum Durchbruch zu verhelfen.«
Teil der AfD-Strategie, sich ein Paralleluniversum von Wahrheiten zu schaffen, ist es, sich verschiedenster Argumentationen und Symbole zu bedienen, die das kritisieren, was oft als »herrschender Diskurs« oder »Mainstream« bezeichnet wird: eine große Portion USA-Feindlichkeit, ein bisschen Verständnis für Russland, ein wenig Antisemitismus und viel Islam-Bashing – all dessen und noch viel mehr bedienen sich AfD-Funktionäre wie Höcke, um daraus etwas Neues zu basteln. Nur ein paar Meter neben dem »Angela muss weg«Transparent mit den Judensternen werden deshalb Russland-Flaggen geschwenkt. So weit geht dieses Vermischen von Versatzstücken aus ver- schiedenen Strömungen, dass auf einem AfD-Plakat sogar der Kommunist Ernst Thälmann mit einem ihm zugeschriebenen Satz zitiert wird: »Mein Volk, dem ich angehöre und das ich liebe, ist das deutsche Volk; und meine Nation, die ich mit großem Stolz verehre, ist die deutsche Nation.«
Die AfD und ihre Anhänger sind in dieser, ihrer Weltsicht Opfer – Opfer der »Lügenpresse«, Opfer »der selbstmörderischen Politik der Altparteien«, Opfer der naiven Gegendemonstranten, Opfer des »amerikanischen Imperialismus«, Opfer des »EUZentralismus«, Opfer von Migranten, »die nicht mehr mitgebracht haben als eine Herkunft aus einem gescheiterten Staat«. Diese Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen. Opfer aber, die nun – unter der Führung von Menschen wie Höcke – bereit sind, sich zu erheben. Jedenfalls dann, wenn sie in der Überzahl sind. Als die AfD nämlich eine Woche nach ihrer Erfurt-Demonstration zu einem Aufmarsch nach Jena lud, da waren die Gewichte zwischen AfD-Demonstranten und Protestierenden anders als in der thüringischen Landeshauptstadt verteilt. Und die AfD-Redner waren plötzlich vergleichsweise zahm.