Institutionell verdichtete Schwäche
Raul Zelik über rot-rot-grüne Bündnisse im Schatten des AfD-Aufstieges. Eine Antwort auf Klaus Ernst (»nd« vom 15.1.)
Es ist eine trostlose Diskussion: In Anbetracht des kometenhaften AfDAufstiegs diskutiert die LINKE wieder mal über rot-rot-grüne Regierungen, obwohl außer ihr niemand einen Gedanken daran verschwendet. Man sagt »Machtoption«, meint aber eigentlich nur ein bisschen Teilhabe.
Man muss daran erinnern, was in den letzten Jahren in der EU eigentlich passiert ist: Neben der Verstaatlichung von Spekulationsverlusten und Sozialkürzungen haben wir vor allem eine tiefe Krise der Repräsentation erlebt. Volksparteien, denen früher einmal 80 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimmen gaben, erreichen heute oft gerade einmal die Hälfte derer, die überhaupt noch zu Wahlen gehen. Davon profitiert allerdings in erster Linie die rassistische Rechte. Dass diese in Österreich, wo die FPÖ gegen eine Große Koalition anstänkert, genauso erfolgreich ist wie in Frankreich, wo eine »Mitte-Links-Regierung« im Amt ist, zeigt schon mal deutlich, dass die Diskussion um Regierungsbündnisse am Problem vorbeigeht.
Hinter der »Krise der Repräsentation« steckt eine simple Erkenntnis: Wirtschaftspolitisch ist heute ziemlich egal, wer regiert. Das Führungspersonal wechselt, die ökonomische Richtung bleibt immer dieselbe. Dass sich viele Menschen in Anbetracht dieser Lage rechten »Protestparteien« zuwenden, kann ebenfalls kaum überraschen. Wenn schon Kritik, dann lieber eine, die nicht wehtut. Denn wer sich AfD und Pegida anschließt, hat nichts zu befürchten. Die »FAZ« liefert Argumentationshilfen, Anne Will lädt zur besten Sendezeit, und auf der Straße knüppelt einem die Polizei wenn nötig den Weg frei.
Wie viel beschwerlicher ist da die Kritik der Verhältnisse: Man muss sich nicht nur mit einer Lebensweise auseinandersetzen, die einem von Kindesbeinen eingebläut worden ist, sondern bekommt auch noch ständig die eigene Ohnmacht vorgeführt. Gegen TTIP mögen zehn Mal so viele Menschen demonstrieren wie gegen Flüchtlinge, aber leider gibt es hier keine Talkshoweinladungen. Auch eine größere Tageszeitung, die der »Kapitalismusflut« und ihren »enthemmten Meuten« ähnlich kritisch gegenübersteht wie der Blätterwald den Zuwanderern, ist nicht bekannt. Die bürgerliche Gesellschaft mag viel darüber sprechen, wie ähnlich sich die »politischen Extremen« sind; faktisch tut sie alles, um zwischen diesen zu unterscheiden.
Und wenn sich dann doch einmal ein Betriebsunfall ereignet und eine kapitalismuskritische Bewegung Relevanz erlangt, dann setzt Europa alle Hebel in Bewegung, um jeden Kurswechsel zu verhindern. Leider hat auch das Beispiel SYRIZA bewiesen, dass Regierungen im verfassungsrechtlich fixierten Neoliberalismus der EU zwar den Neoliberalismus, aber eben keine Alternativen zu diesem gestalten dürfen.
Wie kommen wir dann aber aus dieser Situation institutionell verdichteter Schwäche heraus? Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass linker Reformismus im 20. Jahrhundert nur dann funktionierte, wenn es entsprechende Kräfteverhältnisse gab – und damit sind nicht Wahlergebnisse gemeint. Sozialsysteme, Bildungsreformen, Mitbestimmungsgesetze – das alles wurde in Europa mal unter Mitte-Links-, mal unter Mitte-Rechts-Regierungen eingeführt. Wenn es zu solchen Reformen kam, dann allerdings immer, weil der Kontrollverlust drohte. Linke Reformen sind Klassenkompromisse; und die kann man leider nicht wählen, sondern muss sie erkämpfen.
Es wird also wenig nützen, sich an SPD und Grüne ranzuwanzen (von der AfD ganz zu schweigen). Gegenmacht entsteht nicht in Fraktionsarbeit, sondern in sozialen Konflikten. Natürlich werden solche Auseinandersetzungen von unterschiedlichen Menschen getragen. An einem Streik beteiligen sich Beschäftigte, die beim letzten Mal vielleicht rechts gewählt haben. Gegen TTIP sind Grüne, Sozialdemokrat/innen und Antikapitalist/innen gemeinsam auf der Straße. In Baden-Württemberg zeigt ein katholischer CDU-Bürgermeister mehr Rückgrat als der grüne Nouveau Citoyen und vielleicht auch als man selbst.
Die LINKE wäre gut beraten, endlich ernst zu nehmen, was sie seit Jahren debattiert: Sie muss eine »gesellschaftliche Partei« werden. Kämpfe mittragen, zuhören, lernen, Bündnisse schließen – aber immer »von unten«. Und wenn schon Repräsentationspolitik, dann bitte wie Bernie Sanders. Der führt in diesen Monaten einen Wahlkampf, bei dem es weniger darum geht, US-Präsident zu werden, als eine gesellschaftliche Stimmung zu drehen.