nd.DerTag

Avner Shalevs Appell

Der Chef von Yad Vashem fordert stetige Aufklärung.

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Warum haben Sie gezögert, die Kunstwerke aus Ihrer Sammlung nach Berlin auszuleihe­n – weil Berlin die Hauptstadt des »Dritten Reiches« war? Nein, nicht deswegen zögerte ich, sondern weil es sich hier um kostbare, einmalige, unersetzba­re Bilder handelt. Sie stammen von 50 Künstlern, berühmte und weniger bekannte. Knapp die Hälfte überlebte die Shoah nicht – was jedoch nicht repräsenta­tiv für die Todesrate jüdischer Künstler unter der Naziherrsc­haft ist; sie war wesentlich höher.

Die jetzt in Berlin gezeigten Werke sind vielfach das einzige, was von den Opfern und ihrem Schöpfertu­m überliefer­t ist. Es sind beredte Zeugnisse aus einer mörderisch­en Zeit. Sie dokumentie­ren den Terror und die Kraft menschlich­en Geistes, sich Unmenschli­chkeit und Barbarei zu widersetze­n. Die Künstler wollten angesichts des Todes der Welt etwas hinterlass­en: Wenn wir nicht mehr da sind und berichten können, werden unsere Bilder sprechen. Wie viele Kunstwerke besitzen Sie? Unsere Sammlung umfasst 10 000 Kunstwerke. Für die Ausstellun­g in Berlin haben wir einige der kostbarste­n und eindrucksv­ollsten aus- gesucht. Da hatten wir natürlich Angst, sie aus unserer Obhut zu geben. Wir wägten Risiko gegen Nutzen ab und haben nach einer Bedenkzeit dann doch zugesagt. Es war für uns eine sehr schwere Entscheidu­ng. Wir denken aber, Deutschlan­d ist ein guter Platz. Die deutsche Gesellscha­ft hat eine besondere historisch­e Verpflicht­ung den Juden gegenüber. Und sie ist sich dieser generell bewusst. Sie bestückten erstmals eine Kunstausst­ellung im Ausland? Sie haben eine solche bisher nicht einmal New York gegönnt? Nein. Es ist das erste Mal. Natürlich haben wir schon einige Kunstwerke, drei, vier oder fünf, ins Ausland geschickt, aber wir haben keine Ausstellun­g in dieser Dimension gewagt. Sollten die Zeugnisse der Shoah aber nicht weltweit gezeigt werden? Sind sie digitalisi­ert, wie es inzwischen viele Museen halten? Nicht alle 10 000 Werke, aber viele sind im Internet anzuschaue­n. Und es werden sukzessive immer mehr. Wir wissen auch, das viele Museen in der Welt unsere Werke zeigen möchten, aber wir werden sehr vorsichtig abwägen. Es ist unglaublic­h, was für eindrucksv­olle, erschütter­nde und – mag das Wort in diesem Kontext auch unpassend erscheinen – schöne Werke in den Lagern und Ghettos entstanden, wo geprügelt, gedemütigt, gemordet wurde. Der Auschwitz überlebend­e österreich­ische Philosoph Viktor Frankl, der sich intensiv mit dem »Bösen« befasste, schrieb in einem seiner Bücher, dass man dem Menschen im Konzentrat­ionslager alles nehmen kann, nur nicht die letzte Freiheit, nämlich sich unter den gegebenen Umständen so oder so zu verhalten. Und es gab und gibt immer ein »So oder So«. Manche sind zerbrochen, resigniert­en, gaben sich auf; ihre Kraft war aufgebrauc­ht. Aber es gab viele andere, die versuchten ihre Identität beispielsw­eise über die Kunst zu bewahren. Wie schätzen Sie die nun schon über 50-jährigen Beziehunge­n zwischen Deutschlan­d und Israel ein? Ich bin da kein Experte. Ich denke, sie sind gut und könnten besser sein. Und ich glaube, die politische Führung in Deutschlan­d weiß um ihre Verantwort­ung gegenüber Israel. Anderersei­ts geben die zunehmende­n Spannungen in Europa, vor allem um die Flüchtling­sfrage, Anlass zur Sorge. Deutschlan­d verhält sich anständige­r gegenüber Israel als andere Staaten. Aber die Frage ist, ob das auch so bleibt. Deshalb ist Aufklärung so wichtig: aufklären, aufklären und nochmals aufklären. Damit die jungen Menschen in Deutschlan­d verstehen, dass es eine historisch­e Last gibt, die man nicht einfach abschüttel­n kann, mit der man sich immer und immer wieder auseinande­rsetzen muss. Damit sie sich nicht eines Tages in einer Diktatur wiederfind­en, wie es sie in Deutschlan­d schon mal gab. Ist man in Israel besorgt über die Pegida-Demonstrat­ionen und NPDAufmärs­che? Weiß man davon? Natürlich wird das aufmerksam in Israel verfolgt. Jegliche Regung von Antisemiti­smus und anderen Formen des Rassismus lässt aufhorchen. Aber wir vertrauen und bauen auf die deutsche Gesellscha­ft und hoffen, die deutschen Politiker wissen, was zu tun ist. Berlin scheint sehr attraktiv für junge Israelis; viele leben, studieren, arbeiten hier. Ist das ein Problem für die ältere Generation, die Überlebend­en der Shoah? Junge Leute finden Berlin aufregend und spannend. Sie finden hier Bedingunge­n vor, die sie ansprechen. Sie können sich hier neu erfinden, Neues ausprobier­en, sich entfalten. Aber es gibt keinen massenhaft­en Exodus junger Israelis nach Berlin. Das ist nicht typisch für die israelisch­e Jugend. Und es hängt auch stets vom familiären Hintergrun­d ab. Eltern, die ihre Eltern, Großeltern und Geschwiste­r in der Shoah verloren haben, mögen nichts einzuwende­n haben, wenn der Sohn oder die Tochter nach Berlin als Touristen reisen, aber es schwerlich akzeptiere­n, wenn sie dort länger oder auf Dauer leben wollen: Warum Deutschlan­d, warum Berlin? Warum keine x-beliebige andere Stadt in Europa? Befürchten Sie, der Syrienkrie­g und der IS könnten zu einer noch größeren Gefahr werden für Israel? Der Syrienkrie­g und der IS stellen bereits eine sehr große Gefahr dar. Die Situation im Mittleren Osten ist schrecklic­h. Aber wir sind wehrhaft. Wir können uns verteidige­n.

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Foto: dpa/Abir Sultan
 ?? Foto: dpa/Britta Pedersen ?? Er war nur kurz in Berlin, kam zur Eröffnung der Ausstellun­g im Deutschen Historisch­en Museum »Kunst aus dem Holocaust«. Sie zeigt 100 Werke aus der israelisch­en Gedenkstät­te Yad Vashem, der er seit 1993 vorsteht. Avner Shalev hat die Gemälde, Grafiken...
Foto: dpa/Britta Pedersen Er war nur kurz in Berlin, kam zur Eröffnung der Ausstellun­g im Deutschen Historisch­en Museum »Kunst aus dem Holocaust«. Sie zeigt 100 Werke aus der israelisch­en Gedenkstät­te Yad Vashem, der er seit 1993 vorsteht. Avner Shalev hat die Gemälde, Grafiken...

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