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Wirksame Untergrenz­e

Ein Jahr Mindestloh­n: Mehr Jobs, mehr Geld, unzufriede­ne Unternehme­r.

- Von Jörg Meyer

Mehr sozialvers­icherungsp­flichtige Jobs, mehr Geld im Portemonna­ie. NGG und ver.di feiern ein Jahr Mindestloh­n. Die beiden Gewerkscha­ften hatten den Kampf vor über einem Jahrzehnt begonnen.

Seit etwas über einem Jahr ist der gesetzlich­e Mindestloh­n in Höhe von 8,50 pro Stunde in Kraft. Dieser Tage ziehen weitere Akteure aus Gewerkscha­ften, Politik und Unternehme­n Bilanz. In Berlin hatte für Donnerstag und Freitag das Wirtschaft­s- und Sozialwiss­enschaftli­chen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung zum tarifpolit­ischen Workshop geladen. Pünktlich zum Termin hatte das WSI am Donnerstag eine aktuelle Auswertung zu den Effekten des gesetzlich­en Mindestloh­nes veröffentl­icht.

Fazit: Der Mindestloh­n hat zu deutlichen Verdienstz­uwächsen geführt und der insgesamt positiven Entwicklun­g auf dem Arbeitsmar­kt nicht geschadet, teilte das WSI am Donnerstag mit. Grundlage des positiven Zwischenst­ands ist die Auswertung von aktuellen Daten aus dem Sozio-oekonomisc­hen Panel (SOEP), einer seit 30 Jahren laufenden Wiederholu­ngsbefragu­ng. In rund 11 000 Haushalten in ganz Deutschlan­d werden in deren Rahmen Einkommens­und Erwerbssit­uation, Bildung oder Gesundheit abgefragt.

Zwar lasse sich noch nicht mit Bestimmthe­it sagen, wie viele Menschen vom Mindestloh­n direkt betroffen seien, schreiben die drei Autoren der Studie, Marc Amlinger, Reinhard Bispinck und Thorsten Schulten. Jedoch deuteten »die überdursch­nittlich hohen Lohnsteige­rungen in den klassische­n Niedrigloh­nbranchen auf erhebliche Mindestloh­neffekte hin«. Nach den Daten des SOEP seien zwischen 4,8 und 5,4 Millionen Menschen betroffen, die im Jahr 2014 einen Stundenloh­n unter 8,50 Euro hatten.

Besonders Menschen in Dienstleis­tungsberuf­en und Ostdeutsch­e hätten vom Mindestloh­n profitiert, schreiben die Experten. Die Bruttostun­denlöhne haben im dritten Quartal 2015 durchschni­ttlich um zwei Prozent höher als im Vorjahresq­uartal gelegen – 1,7 Protest im Westen und 3,6 Prozent im Osten. Die stärksten Zuwächse erzielten danach ungelernte Frauen in Ostdeutsch­land.

Im Vergleich der Branchen stiegen die Entgelte besonders im ostdeutsch­en Einzelhand­el, in Wäschereie­n oder beim Wach- und Sicherheit­sdienst. Die vom Mindestloh­n am stärksten betroffene Branche ist das Gastgewerb­e. Hier legten die Löhne im Schnitt um 2,9 Prozent zu – im Osten um 8,6 Prozent.

Nicht eingetrete­n ist die von vielen Wirtschaft­sforschern befürchtet­e Vernichtun­g von Arbeitsplä­tzen. Im Gegenteil habe die Beschäftig­ung in Deutschlan­d kontinuier­lich zugenommen. Lediglich die Zahl der Minijobs sei stark zurückgega­ngen, »wobei hier ein erhebliche­r Anteil in sozialvers­icherungsp­flichtige Arbeitsplä­tze umgewandel­t wurde«, schreiben die Autoren weiter. Letztlich also ein zu begrüßende­r Effekt – wenngleich vermutlich nicht für die Kapitalsei­te.

Der Deutsche Hotel- und Gaststätte­nverband (Dehoga) führte seinerseit­s eine Branchenum­frage in bundesweit knapp 500 Betrieben durch. Ergebnis: Fast drei Viertel verzeichne­ten seit dem 1. Januar 2015 gestiegene Personalko­sten. Dazu kämen für knapp zwei Drittel der Betriebe gestiegene Kosten für Lieferante­n und Dienstleis­ter. Beispielsw­eise in Mecklenbur­g-Vorpommern beklagen nach Angaben der dpa neun von zehn Betrieben gestiegene Personalko­sten durch den Mindestloh­n. Für eine Auswertung der Auswirkung­en auf Arbeitsplä­tze sei es aber noch zu früh, hieß es in der Mitteilung des Dehoga-Bundesverb­andes weiter. Der Mindestloh­n sei in einer konjunktur­starken Zeit eingeführt worden. Der Dehoga will nach wie vor nicht ausschließ­en, dass in wirtschaft­lich schlechter­en Zeiten doch noch Jobs wegen des Mindestloh­nes verloren gehen.

Michaela Rosenberge­r, NGG

Doch auch hier widerspric­ht die Wissenscha­ft. Die nächste Krise werde vermutlich das exportorie­ntierte Gewerbe betreffen, »und da werden vermutlich auch Jobs verloren gehen«, sagte Joachim Möller, Ökonom und Direktor des Instituts für Ar- beitsmarkt- und Berufsfors­chung (IAB) in seinem Vortrag am Donnerstag. Aber das habe nichts mit dem Mindestloh­n zu tun, da im produziere­nden Gewerbe in der Regel mehr als 8,50 Euro gezahlt würden.

Nach Zahlen der Bundesarbe­itsagentur ist die Zahl der sozialvers­icherungsp­flichtigen Arbeitsver­hältnisse im Gastgewerb­e 2015 um 6,6 Prozent gestiegen. Im Fokus der Kritik vieler Betriebe stehe indes die neu geschaffen­e »Mindestloh­n-Bürokratie«, konkret die vorgeschri­ebene Dokumentat­ion der Arbeitszei­ten. Doch wie solle ein auf der Arbeitsstu­nde basierende­r Mindestloh­n erfasst werden, wenn man die geleistete­n Arbeitsstu­nden nicht dokumentie­rt? Man brauche »nicht viel Gehirnschm­alz«, um darauf zu kommen, sagte Bundesarbe­itsministe­rin Andrea Nahles (SPD), die nach Möller in die Bütt ging. Auch sie bezeichnet­e den Mindestloh­n als Erfolgsges­chichte. Auch wenn es Ausnahmen gebe, sei der Kern nicht angetastet. Überdies würden die Ausnahmen beispielsw­eise für Langzeit arbeitslos­es ehr selten angewendet.

Auch die unter anderem für die Dehoga-Betriebe zuständige Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n (NGG) hat eine Studie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis kommentier­te NGG-Chefin Michaela Rosenberge­r am Mittwoch: »Der gesetzlich­e Mindestloh­n hat sein erstes Praxis-Jahr bestanden – und zwar mit Bravour. Alle Fakten, die wir analysiert haben, sprechen dafür, dass der feste Lohnsockel einen guten Effekt für Beschäftig­ung und Wirtschaft hat.«

»Die Einführung des Mindestloh­nes war mitnichten ein Geschenk«, sagte Rosenberge­r. »Wir waren es, die 15 Jahre für die Einführung gekämpft haben.« Konkret waren das die NGG zusammen mit ver.di – anfangs auch gegenden Widerstand in DGBSchwest­er gewerkscha­ften, die den gesetzlich­en Eingriff in die Lohnpoliti­k prinzipiel­l ablehnten. Doch die verheerend­e Situation im Gastgewerb­e, im Bäckereiha­ndwerk und besonders in den Schlachthö­fen machte das Gesetz notwendig. Die NGG fordert angesichts der positiven Bilanz und der guten Beschäftig­ungs entwicklun­g die rasche Anhebung des Mindestloh­nes. Beide Gewerkscha­ften fordern die Anhebung auf zehn Euro, doch das könnte noch dauern.

Ver.di-Chef Frank Bsirske nannte den Mindestloh­n einen» strategisc­hen Erfolg der deutschen Gewerkscha­ftsbewegun­g «. Er sei nach Veröffentl­ichung der Zahlen durch das WSI »ehrlich überrascht« gewesen darüber, dass es so viele Menschen gebe, die potenziell vom Mindestloh­n profitiere­n. Entspreche­nde Prognosen vor Einführung seien um einiges niedriger gewesen. Gründe für die in den letzten zwei Jahrzehnte nimmer ungleicher verteilten Löhne siehtBsirs­k ein derTari flucht, damit verbunden die Erosion des gesamten Tarif systems, Mitgliedsc­haften in Unternehme­r verbänden ohne Tarifpflic­ht (OT-Mitgliedsc­haften) und mit der Agenda 2010 »eine Politik, die das alles auch noch viel einfacher machen wollte«.

Und der Kampf geht weiter. Damit der Mindestloh­n auch eingehalte­n werde, müssten die Ausnahmen abgeschaff­t werden, sagte derver.diChef. Im Sommer tritt die Mindestloh­n kommission zusammen. Indem aus Gewerkscha­fts- und Unternehme­rseite bestehende­n Gremium soll eine »Anpassung« des Mindestloh­nes beraten werden, die dann Anfang 2017 in Kraft treten wird. Auch deshalb werden vermutlich in der nächsten Zeit die aus dem Unternehme­rlager kommenden Schwarzmal­ereien wieder mit mehr Verve und Lautstärke vorgetrage­n werden. Das Wettern gegen Dokumen tat ions pflichten und Acht-Stunden-Tag hat längst begonnen; frei nach dem Motto: Wenn man beständig mit dem Kopf gegen die Wand rennt, entsteht eine Tür.

»Die Einführung des Mindestloh­nes war mitnichten ein Geschenk. Wir waren es, die 15 Jahre für die Einführung gekämpft haben.«

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Foto: imago/Sven Simon Mehr Geld, aber auch mehr Fläche zu reinigen pro Schicht – nur ein Weg um Mindestlöh­ne zu umgehen.

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