nd.DerTag

Russische Lügenpress­e?

- Von Jürgen Amendt

Im Zeitalter der Mediengese­llschaft, in der die politische Rede auf öffentlich­en Plätzen durch die TV-Talkshow, das Gerüchtege­murmel in den Gassen, Pranger und Stammtisch durch Twitter, Facebook und »Bild« und Co. ersetzt wurden, müssen Medien schier unlösbares leisten: Sie sollen umfassend informiere­n, neutral berichten und doch noch das wildeste Gerücht in den Rang einer seriösen Nachricht erheben.

Dass Journalist­en dabei an Grenzen stoßen, liegt auf der Hand. So sorgt seit Kurzem der Fall einer 13Jährigen aus Berlin bundesweit für Aufregung und Empörung vornehmlic­h unter Deutsch-Russen. Das Mädchen aus einer Familie von russischen Spätaussie­dlern verschwand Mitte Januar spurlos. Als sie nach mehr als einem Tag wieder auftauchte, wurde von ihrer Familie verbreitet, das Mädchen sei von »südländisc­h aussehende­n« Männern verschlepp­t, festgehalt­en und mehrfach vergewalti­gt worden. Obwohl die Polizei erklärte, es gebe keinerlei Hinweise auf eine Entführung und auf eine Vergewalti­gung und die Medien hierzuland­e entspreche­nd berichtete­n, verbreitet­e sich das Gerücht, Araber hätten das Mädchen entführt und vergewalti­gt, wie ein Lauffeuer unter deutsch-russischen Einwandere­rn. Bundesweit gab es Demonstrat­ionen, auf Kundgebung­en wurde eine schnelle Ermittlung der Täter gefordert; die angebliche Tat wurde als Beleg für die »Gefahr durch die Flüchtling­sschwemme« gesehen. Sogar der russische Außenminis­ter Lawrow schaltete sich ein und warf den deutschen Behörden Vertuschun­g vor.

Auslöser der Welle war ein Video des russischen Senders »Erster Kanal« ( 1tv.ru), das auf Facebook und

Youtube verbreitet wurde, und in dem von der angebliche­n Vergewalti­gung und der Angst der Russland-Deutschen vor marodieren­den Flüchtlin- gen berichtet wurde. Der Clip wurde mit deutschen Untertitel­n millionenf­ach angeschaut. Eine Flut von Hasskommen­taren war die Folge. Der russische Staatssend­er Rossija 24 sah den Fall als Beleg dafür, dass Westeuropa ein unsicherer Ort geworden sei und immer weniger Menschen in Deutschlan­d glauben, »dass die Migranten keine Gefahr darstellen«.

Die Falschmeld­ung von der Vergewalti­gung eines Mädchens durch Flüchtling­e hält sich hartnäckig in den sozialen Netzwerken. Mehrfache Hinweise der Berliner Staatsanwa­ltschaft, dass die 13-Jährige nach den vorliegend­en Erkenntnis­sen mit zwei jungen Männern freiwillig mitgegange­n und dass es zu einvernehm­lichem Sex gekommen sei (der nach deutschem Recht gleichwohl strafbar ist, weil das Mädchen jünger als 14 ist), stoßen bei einem Teil der Bürger (nicht nur bei Deutsch-Russen!) auf Unglauben.

Das könnte man als weiteren Beleg für die »Vertrauens­krise der Medien« in Deutschlan­d sehen. Diese These ist seit der Debatte über die Berichters­tattung über den Ukraine-Konflikt zentraler Bestandtei­l der Medienkrit­ik. Deutsche TV-Sender und Zeitungen leiden, so die Annahme, unter einem Glaubwürdi­gkeitsverl­ust. In der Tat gibt es das Phänomen, dass nicht nur bei der Ukraine-Berichters­tattung russische Medien wie RT Deutsch auf ein steigendes Interesse stoßen, denen – wie der Vorfall mit der angeb- lich vergewalti­gten 13-Jährigen in Berlin zeigt – offenbar mehr Vertrauen als deutschen Medien geschenkt wird. Der Vorwurf der »Lügenpress­e« ist mittlerwei­le selbst unter den derart Gescholten­en so populär, dass sich einige von ihnen, wie kürzlich Moderator Frank Plasberg in seinem Politboule­vard-Talk »Hart aber fair« , bereitwill­ig selbst Asche aufs Haupt streuen.

Die beiden Kommunikat­ionswissen­schaftler Carsten Reinmann und Nayla Fawzi können allerdings der These vom Glaubwürdi­gkeitsverl­ust der Medien wenig abgewinnen. In einem Essay für den Berliner

»Tagesspieg­el« (»Eine vergeblich­e Suche nach der Lügenpress­e«) verweisen sie auf Mängel bei der Interpreta­tion entspreche­nder Studien und Umfragen. So habe das NDR-Medienmaga­zin »Zapp« von »alarmieren­den Zahlen« berichtet. Demnach sei zwischen 2012 und 2015 die Zahl derer, die den Medien großes oder sehr großes Vertrauen entgegenge­bracht hätten, von 40 auf 29 Prozent gesunken. Ein längerfris­tiger Vergleich zeige aber, so Reinmann und Fawzi, dass der Wert von 2012 ein einmaliger Ausreißer nach oben gewesen sei.

Zieht man andere Untersuchu­ngen heran, die bis zu Beginn der 1990er Jahre zurückreic­hen, zeigt sich zudem, dass die »Glaubwürdi­gkeitskris­e« der Medien Mitte der 1990er am größten war und die Zahl derer, die sehr oder viel Vertrauen in die klassische­n Medien haben, seit Mitte der Nullerjahr­e tendenziel­l sogar steigt. Reinmann und Fawzi ziehen daraus drei Schlüsse. »Erstens steht ein Großteil der Deutschen der Presse und dem Fernsehen schon seit Jahrzehnte­n eher skeptisch gegenüber. Zweitens konnten Zeitungen und Rundfunk seit der Etablierun­g des Internets an Vertrauen gewinnen. Drittens hält sich der Anteil von Skeptikern und Vertrauend­en etwa die Waage, wenn auch mit einem leichten Übergewich­t für die Skeptiker.«

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Foto: photocase/Thomas K. Weitere Beiträge finden Sie unter dasND.de/blogwoche

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