Alte Seilschaften und Warten auf den 3. Maidan
In der Ukraine dauert die Herrschaft der Reichen an / Größtes Hindernis für eine Besserung ist der Krieg
Die Herrschaft der Reichen in der Ukraine dauert an. Eine kleine Zahl von berüchtigten Großunternehmern des Landes übt noch immer massiven Einfluss aus, so Inna Melnykovska im »nd«-Gespräch. Profilierte Politiker wie Präsident Petro Poroschenko und Ministerpräsident Arseni Jazenjuk pflegen immer noch die Seilschaften zu wohlha- benden Geschäftsleuten, unterstreicht die Politikwissenschaftlerin Inna Melnykovska. Die zehn reichsten ukrainischen Oligarchen seien alle unter 55 Jahre alt und begründeten ihr Vermögen in den 1990er Jahren durch den Erwerb der besten Stücke des Volkseigentums aus der Ukraine der Sowjetzeit.
»Die Proteste auf dem Maidan waren allgemein gegen die Herrschaft der Reichen gerichtet, aber wenn die Demonstranten ihre Forderungen spezifischer machten, dann konzentrierten sie sich auf Präsidenten Viktor Janukowitsch und die Oligarchen, die eindeutig als Unterstützer seines Klans identifiziert werden konnten«, sagt sie. Janukowitsch und seine »Familie« hatten andere – oft rivalisierende – Oligarchen ausmanövrieren können. In den letzten Jahren seiner Präsidentschaft war er bemüht seine Macht zu konsolidieren, indem er Klanmitglieder überall im Staatsapparat – vor allem im Sicherheits- und Justizwesen – platzierte. »Deshalb setzte die Maidan-Bewegung von Anfang an die ›Familie‹ Janukowitschs mit der politischen Macht gleich.«
Mit dem Sturz Janukowitschs im Februar 2014 wurde der Einfluss der »Familie« reduziert. Das Machtvakuum bedeutete ein Comeback für Oligarchen wie Petro Poroschenko, Ihor Kolomojskyj und Serhij Taruta. Sie wurden vorerst die großen Gewinner. Die Finanzmogule Rinat Achmetow und Dmitry Firtasch, die Janukowitschs Familienklan nahe gestanden hatten, vermochten es weitgehend, »ihre Cliquen in der staatlichen Verwaltung aufrecht zu halten«. Wenn es noch nicht zu Gerichtsverfahren gegen prominente Oligarchen wegen Verbindungen zur organisierten Kriminalität und der Bereicherung bei öffentlichen Aufträgen kam, dann habe das laut Melnykovska damit zu tun, dass die neue Regierung weiterhin ihre Unterstützung brauche.
»Insbesondere Achmetow hat es vermocht, diese Abhängigkeit sehr geschickt auszunutzen. Öffentliche Angestellte in den südöstlichen Regionen stehen unter seinem direkten Einfluss.« Dieser Oligarch ist der reichste Mann der Ukraine. Zu seinem Geschäft gehören Banken, Telekommunikation, Fernsehstationen, Schwerindustrie und ein Fußballverein. Sein Konglomerat ist für 13 Prozent des ukrainischen Bruttoinlandsprodukts zuständig.
Die Umwälzung in der Politik nach dem Maidan und den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen haben die Oligarchen gezwungen, ihre Seilschaften mit der Politik neu zu formen. Darüber hinaus erleiden sie aufgrund der Wirtschaftskrise und der militärischen Auseinandersetzungen in den östlichen Gebieten bedeutende Vermögensverluste. Auch einige lukrativen Bereicherungsquellen aus dem Staatsbudget wurden durch die neue Gesetzgebung eingeschränkt. Aber der formelle oder informelle Einfluss auf lokale und regionale Be- hörden sicherte ihnen gegenüber dem Präsidenten und dem Premierminister eine »ziemlich gute« Verhandlungsposition. Auf dieser Grundlage geht die Politikwissenschaftlerin davon aus, dass Großunternehmer auch künftig die ukrainische Politik beeinflussen. Die Strukturen, die die Herrschaft der Reichen gestatten, seien erhalten geblieben.
Tatsache sei, dass der Maidan nicht die Oligarchie abgeschafft habe. Das werde noch viele Jahre dauern. »Der Maidan war der Beginn dieses Prozesses, nicht das Ende,« sagt Melnykovska. »Der Maidan hat eine aktive Zivilgesellschaft beflügelt, die den Kampf gegen Oligarchie antreibt.« Als größtes Hindernis für politische Veränderungen zum Besseren sieht sie den Krieg in der Ostukraine. Neue Proteste würden als eine zusätzliche Quelle der Instabilität in einer Situation gesehen, in der die nationale Sicherheit gefährdet ist. »Aber wenn die Kämpfe enden und die Einwohner sehen, dass es immer noch keine Besserung gibt, kann das zu einer Radikalisierung in der Bevölkerung führen. Dann werden wir vielleicht einen dritten Maidan erleben.«