Du sollst nicht falsch Zeugnis reden
Wie »ND« mit einem diffamierenden Kommentar auf den Fall Brüsewitz reagierte. Teil X der Serie über die DDR 1976
Weit mehr als die Selbsverbrennung des Pfarrers Brüsewitz löste in der DDR ein Kommentar im damaligen Zentralorgan der SED eine Welle der Kritik und der Empörung aus – auch unter Sozialisten. Die Frage, ob die Selbstverbrennung des Oskar Brüsewitz vordergründig religiös, politisch oder pathologisch motiviert war, wird sich nicht mehr vollends klären lassen. Sie ist für die Historiker aber auch nicht entscheidend. Denn nicht der öffentliche Feuersuizid des Pfarrers in Zeitz war das Ereignis in der DDR-Geschichte, sondern die Reaktionen der Bevölkerung auf einen Brüsewitz diffamierenden ND-Kommentar vom 31. August 1976. Dieser eine Artikel im SED-Zentralorgan unter der Überschrift »Du sollst nicht falsch Zeugnis reden« (flankiert von einem ähnlichen Kommentar im CDU-Blatt »Neue Zeit«) löste in der DDR-Gesellschaft eine Welle der Kritik und der Empörung aus.
Auf der zweiten Seite des ND kommentierte ein anonymer Autor unter dem Kürzel A.Z. die »Bösartigkeit bundesrepublikanischer Kirchenfürsten«, die da versuchten, einen Märtyrer gegen den Kommunismus hochzustilisieren. Man sehe sich gezwungen, auf den »Selbstmord eines ‚Pfarrers« zu reagieren, der nicht alle fünf Sinne beisammen gehabt habe. »Gelegentlich spannte er sein Auto vor Pflug und Egge oder auch ein Pferd vor seinen Trabant, in dem er des Öfteren mit Sturzhelm zu fahren pflegte. Als das Tier verendete, suchte er vergebens zur Verbrennung seines toten Gauls das Krematorium in Anspruch zu nehmen. Dafür trat er bei einer Beerdigung bewusst auf die Schleifen der niedergelegten Kränze, weil sie der letzte Gruß für den Toten von den Kollegen einer Genossenschaft waren.« Andersdenkende habe er als Gesinnungslumpen beschimpft. Und »ob er unter seinem General, zu dem er heimkehren wollte, Gott oder den BND verstand, wollen wir hier nicht näher erörtern«. Damit nicht genug, »soll er bei einem Fußballspiel mit Kindern weniger angehabt haben als eine Unterhose […]«.
Der geifernde Tonfall des Autors sei eindeutig die Sprache des 17. Juni gewesen, so Horst Dohle, Historiker und seinerzeit Büroleiter des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Hans Seigewasser. Die beleidigenden Ausfälle gegen Brüsewitz hätten diesen Artikel zu einem »Zeugnis von Zynismus und Arroganz der Macht« gemacht. Bis weit in die SED hinein habe dieser Text, eine eher hilflose Reaktion auf die Berichte im Westfernsehen, für Ärger und Entsetzen gesorgt. Der eigentliche Adressat aber sei die evangelische Kirche in der DDR gewesen. Deren Bischöfe hatten die letzte Tat des Pfarrers aus Rippicha zwar nicht gebilligt, aber sie hatten sich auch nicht ausdrücklich von ihm distanziert. In ihren Stellungnahmen war immer von »Bruder Brüsewitz« die Rede. Ihnen sollte signalisiert werden, dass man auch ganz anders könne, dass die Jahre 52/53 noch nicht allzu lange zurücklagen.
Wie viele Protestschreiben es damals gegeben hat, ist nicht mehr festzustellen. Der ND-Artikel wurde in jedem SED-Bezirksblatt nachgedruckt. Etliche der Briefschreiber haben eine Abschrift an das Magdeburger Konsistorium geschickt, das für Brüsewitz’ Pfarrsprengel zuständig war. Auch finden sich einige Dutzend Leserbriefe in der »Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR« in Berlin-Lichterfelde.
So äußerte der Theologe und spätere DDR-Oppositionelle Wolfgang Ullmann sein Befremden über den »Angriff auf einen wehrlosen Toten«, der einer Verhöhnung seiner Angehörigen und einer Beleidigung aller Christen gleichkomme. »Ich spreche darum die Erwartung aus, dass so- wohl sein Verfasser wie die für die Veröffentlichung verantwortlichen Redaktionsmitglieder zur Verantwortung gezogen werden.« Der spätere SPD-Fraktionsvorsitzende in der ersten freigewählten Volkskammer, Richard Schröder, damals Pastor in Wiederstedt im Harz, ging sogar soweit, der ND-Redaktion »verbale Leichenschändung« vorzuwerfen. »Dieser Artikel ist ein Skandal«, schrieb Pfarrer Dietmar Anger aus Mühlenberg. Da genüge es nicht, darauf hinzuweisen, dass Kommentare wie der von A.Z. nicht unbedingt die Meinung der Redaktion darstellten. Neben diesen Zuschriften findet sich im Archiv auch eine Strafanzeige gegen das »Neue Deutschland«, erstattet von Claus Bernd Hoffmann, Pfarrer aus Halle, »wegen Beleidigung, Verleumdung und Verletzung der religiösen Gefühle der christlichen Bürger der DDR«. A.Z. Wer aber war der Autor des Artikels? Wiederholt ist die Chiffre A.Z. im »Neuen Deutschland« verwendet worden, wenn es galt, eine parteiinterne Polemik oder Klarstellung zu veröffentlichen.
Pfarrer Dietmar Meckel, der damals kurz nach Erscheinen des Kommentars im ND-Gebäude in Berlin nach A.Z. gefragt und im Foyer mehre Stunden ausgeharrt hatte, erinnert sich, dass er als langjähriger Freund von Brüsewitz lediglich zu hören bekam, dass ein Gespräch mit A.Z. eben nicht möglich sei. Erst nach Stunden verließ Meckel das Gebäude am Franz-Mehring-Platz, »nachdem man versucht hatte, sich bei mir zu entschuldigen«. Bedauerlicherweise könne man da jetzt nichts machen, der oberste Chef selbst hätte den Beitrag abgezeichnet. Honecker stünde hinter jedem Artikel, der mit A.Z. unterschrieben sei.
Dass Honecker den Text zumindest autorisiert haben muss, daran glaubt auch Horst Dohle. In Kenntnis der Strukturen im Zentralkomitee könne man davon ausgehen, dass der Entwurf in der für die Presse zuständigen Abteilung »Agitation und Propaganda« entstanden ist und von dort an die Führungsebene weitergereicht wurde. Staatssekretär Seigewasser aber und mit ihm seine Mitarbeiter hätten von dem Vorhaben nichts gewusst. Wie alle anderen seien sie am 31. August bei der Morgenlektüre überrascht worden.
Dass die Urheberschaft für dieses Elaborat vermutlich aber doch beim »Neuen Deutschland« liegt, behauptete vor etlichen Jahren Günter Fleischmann, damals Redakteur des SED-Zentralorgans, zuständig für Kirchenfragen. Seiner Erinnerung nach entstammen die meisten Formulierungen der Feder Hajo Herbells, der bis zum Spätherbst ’89 als erster stellvertretender Chefredakteur fungierte. Der einstige militärpolitische Kommentator und Offizier der Nationalen Volksarmee kann nicht mehr befragt werden, 2003 verstarb Herbell im Alter von 80 Jahren.
Es darf aber angenommen werden, dass ihn in jenen Tagen im Spätsommer 1976 Briefe wie der von Erich Schweidler erreicht haben: »So haben Sie ein ganz phantastisches Eigentor geschossen«, bedankte sich der Pfarrer aus Theißen, der als amtierender Superintendent die kirchliche Verantwortung bei der Beerdigung von Brüsewitz getragen hatte. Schweidler schrieb an A.Z., er gedenke, den Artikel für ein Seminar zum Thema »Von der kleinen Wahrheit zur großen Lüge« zu nutzen. »Lassen Sie mich bitte wissen, ob Sie bereit sind, als Referent daran teilzunehmen. Solche guten Lehrer findet man selten. Falls wir in der Mittagspause Fußball spielen, dürfen Sie auch ‚weniger als eine Unterhose’ anhaben.« Die Gegendarstellung Als Folge der Kommentare im »Neuen Deutschland« und in der »Neuen Zeit« erreichten die Redaktionen auch eine – letzten Endes nicht in DDR-Zeitungen gedruckte – Gegendarstellung der Landeskirche von Oskar Brüsewitz. Der Rat der Magdeburger Kirchenleitung hatte den Text am 2. September 1976 verfasst.
War im »Neuen Deutschland« noch von der »Bösartigkeit bundesrepublikanischer Kirchenfürsten« die Rede, in polemischer Anspielung auf eine relativ zurückhaltende EKD-Stellungnahme in jenen Tagen, so antwortete nun die Kirche mit dem gleichen Attribut: »Das Bild, das die Kommentare vom pfarramtlichen Dienst zeich- nen, ist eine bösartige Karikatur.« Die Kirchenleitung untermauerte den Vorwurf durch Richtigstellung der biografischen Angaben zu Brüsewitz und durch eine Erläuterung der »ungewöhnlichen Aktionen« seines Pfarrdienstes, der freilich auch zur kritischen Auseinandersetzung mit Brüsewitz geführt habe, bis dahin, dass ihm zum Pfarrstellenwechsel geraten worden sei. Doch: »Mit einer disziplinarischen Maßnahme hatte diese Empfehlung nichts zu tun.«
Ein solcher Protest war in der DDR ein außerordentlicher Vorgang. Wie der Kirchenhistoriker Harald Schultze konstatiert, war die Staatsführung an solche Töne aus dem Inland nicht mehr gewöhnt. In der Magdeburger Kirchenleitung habe man gewusst, dass die Gegendarstellung in keiner DDR-Zeitung abgedruckt werden würde. Daher sei man einen Weg gegangen, der eigentlich unseriös sei: Die Antwort der Kirche an die Redaktionen des »Neuen Deutschlands« und der »Neuen Zeit« sei im Hektogramm so weit verbreitet worden, dass sie auch der westdeutschen Presse schnell zugänglich war. »Die Eskalation des Streites war damit bestätigt.« Ein konterrevolutionärer Akt Der Zorn der SED-Oberen steigerte sich noch, als die Konferenz der evangelischen Kirchenleitungen in der DDR am 11. September 1976 eine republikweite Kanzelabkündigung verabschiedete. In diesem »Brief an die Gemeinden« fand sich die Formulierung: »Die Tat von Oskar Brüsewitz und die Wirkung die sie auslöste, zeigen erneut die Spannungen, die durch unsere Gesellschaft gehen, und die Zerreißproben, in die viele gestellt sind. Es wird sichtbar, dass wir dem Leben in unserer Gesellschaft und unserer Kirche nicht dienen, wenn wir Probleme und Widersprüche verdrängen. […] Besonders dringlich ist, dass im einheitlichen sozialistischen Bildungssystem eine Atmosphäre des Vertrauens geschaffen wird und Kinder und Jugendliche ungekränkt als Christen leben können. […]« Erich Honecker verstand die Erklärung der DDR-Bischöfe als »einen der größten konterrevolutionären Akte gegen die DDR«.
Bemerkenswert: In der Forschung zur DDR-Geschichte wurde der 11. September 1976 als Datum bislang völlig unzureichend gewürdigt. An diesem Tag wurde nicht nur von der Kirchen-Konferenz der »Brief an die Gemeinden« beschlossen, am Abend desselben Tages gab der Liedermacher Wolf Biermann in der Nicolaikirche zu Prenzlau, Bezirk Neubrandenburg, auch noch das »Große Gebet der alten Kommunistin Oma Meume aus Hamburg« zum Besten: »Mach, dass mein herzenslieber Wolf nicht endet / wie schon sein Vater hinter Stacheldraht. / Mach, dass sein wirrer Sinn sich wendet / zu der Partei, die ihn verstoßen hat. (…)«
Nach elf Jahren Berufsverbot gab der Kommunist Wolf Biermann unter dem Dach der Kirche sein erstes und bis zum Herbst 1989 letztes öffentliches Konzert in der DDR. Die Partei sah sich also von ein und derselben Institution an einem Tag gleich zweimal angegriffen! Die Befürchtung, dass sich SED-Herätiker wie Biermann und Havemann mit der durch Brüsewitz stark politisierten Pfarrerschaft verbünden würden, war nicht unrealistisch.
Am 14. September wandte sich eine Gruppe von 25 jungen Sozialisten mit einer Eingabe direkt an Erich Honecker. Unter ihnen die spätere Kinderbuchautorin Franziska Groszer, der Musiker Aljoscha Rompe wie auch der spätere Mitgründer der DDRGrünen Carlo Jordan. »Wir sind keine Christen«, hieß es in dem Schreiben an Honecker, »sondern Sozialisten und bekennen uns zum Marxismus.« Gerade deshalb wende man sich gegen eine Praxis, die darin besteht, die persönliche Würde eines Andersdenkenden zu verletzten, um der politischen Auseinandersetzung mit ihm auszuweichen. »Nur die Sozialisten selbst können den Sozialismus diskreditieren…«
Die drei Initiatoren des Protestbriefes, Reinhard Langenau, Rudi Molt und Rupert Schröter, wurden von der Stasi verhaftet. Langenau erkrankte noch in der Zelle an einer Psychose und nahm sich später das Leben. Rupert Schröter und Rudi Molt wurden wegen staatsfeindlicher Hetze zu vier Jahren Haft verurteilt. Erst Weihnachten 1977 wurden beide als politische Häftlinge von der Bundesrepublik freigekauft.