Wir können
Katja Kippings Buch zur »Flüchtlingskrise«
Dieser Tage machte eine kleine Grafik im Kurznachrichtendienst Twitter die Runde. Ein rotes Kärtchen, fünf unterschiedlich große blaue Kreise und eine Frage: »Überfordert?« Hunderte Milliarden Euro wurden seit 2008 für die Rettung von Banken aufgebracht, die sich verspekuliert hatten. Über 60 Milliarden Euro gingen kurz darauf in Konjunkturpakete – als staatliche Wiederanschubhilfe für die kapitalistische Ökonomie. Mit fünf Milliarden Euro so genannter Abwrackprämie wurde die deutsche Automobilbranche gestützt. Und heute?
Da ist allerorten von Überforderung die Rede, weil sich viele Menschen nach Europa, nach Deutschland auf den Weg gemacht haben. Flüchtlingskrise wird das genannt, es ist in Wahrheit: eine Krise der Solidarität, eine Krise des politischen Willens. Oder sollen wir wirklich glauben, die Aufnahme und Integration von ein, zwei Millionen Menschen führe eines der reichsten Länder weltweit in den »Staatsnotstand«? Hier liegt sozusagen die dritte wirkliche Krise dieser angeblichen »Flüchtlingskrise«. Es ist eine Krise der Aufklärung, eine Krise des Denkens von Möglichkeiten, die abseits der ausgetretenen Pfade des Status quo verlaufen – die aber in einer öffentlichen Diskussion keine Chance haben, die von einem politisch-medialen Überbietungswettlauf angetrieben wird, in dem es im-
Katja Kipping mer nur noch schlimmer, immer nur noch katastrophaler, immer nur noch unmenschlicher werden kann. Eine Diskussion, in der die Neonazis die AfD antreiben, die AfD die CSU, die CSU den rechten Rand der CDU, die Union die SPD und so fort.
Ist denn wirklich nichts anderes denkbar als die zwei Varianten der Abschottungspolitik? Gibt es wirklich nur die Wahl, Flüchtlinge an der deutschen Grenze abzuhalten – oder schon früher, an den Außenmauern der tödlichen Festung Europa?
Die kleine rote Grafik aus dem Kurznachrichtendienst Twitter rückt die Relation in einer Diskussion zurecht, die kein Maß mehr zu kennen scheint. Ein Anliegen, das auch die Vorsitzende der Linkspartei verfolgt: Katja Kipping hat ein Buch geschrieben, das nicht der Logik der Überforderung folgt, das nicht aus Rücksicht auf die Wählerschaft das Lied der (auch in ihrer Partei immer mal) besungenen Kapazitätsgrenzen mitsummt. Es ist ein Buch, das ein stückweit außerhalb der üblichen Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen steht. Offenbar ist manches nur noch dort zu denken.
Natürlich dekliniert Kipping auch die tagesaktuellen Forderungskataloge ihrer Partei durch: Fluchtursachen bekämpfen statt die Flüchtlinge. Umverteilung nach unten statt nach oben. Ausbau des Öffentlichen statt Privatisierung. Sozialgarantie statt Verunsicherung. Bezahlbarer Wohnraum für alle statt neue Konkurrenz ums Überleben. Eine europäische »Fluchtumlage« statt des Wettlaufs der Entsolidarisierung in Europa.
Die eigentlichen Botschaft des Buchs von Kipping kann man aber auch anders verstehen: Eine bessere Zukunft, eine Alternative zum erbärmlichen Politschauspiel namens »Flüchtlingskrise«, liegt nicht in einer als besser imaginierten Vergangenheit, sondern in einer grundlegend anderen Zukunft. Nicht: Wir müssen zurück zu … Sondern: Wir könnten erreichen, dass …
Wenn Kipping die aktuelle Lage zu einem historischen Punkt erklärt, ist das nicht übertrieben. 2015 war ein Jahr der Zeitenwende: die erste Hälfte bestimmt vom griechischen Versuch, aus dem krisenpolitischen EU-Beton auszubrechen, ein Versuch, der zunächst scheiterte, weshalb das Berliner Modell aus Exportnationalismus, autoritärem Institutionalismus und »Schwarzer Null« zunächst obsiegte. In der zweiten Hälfte des ZeitenwendeJahres 2015 schlug dann das Pendel zurück – in mehrfacher Hinsicht: In den Fluchtbewegungen zeigten sich die sozialen, ökologischen und humanitären Folgen einer lange verfolgten Strategie, die Kosten des Krisenkapitalismus auch aus Europa auszulagern, um den eigenen Wohlstand abzusichern. Und in dem Unwillen europäischer Regierungen, eine Asylpolitik à la Angela Merkel zu betreiben, kam zugleich eine verspätete Reaktion auf deutsches Vormachtgehabe zum Ausdruck.
Wenn die Einschätzung richtig ist, dass es hier um mehr geht als eine vorübergehende politische Schwierigkeit, müssten also auch die Antworten weiter ausgreifen. Kippings Vorschläge laufen auf eine Verallgemeinerung von fortschrittlichen Kämpfen hinaus, die an den »kurzen Sommer der Solidarität« anknüpft, dabei klassische Elemente sozialistischer und sozialdemokratischer Politik einbezieht, aber auch von den Chancen der vierten industriellen Revolution« nicht schweigt – und ebenso wenig von der Notwendigkeit, eine europäische Antwort zu finden statt sich »in die vermeintliche Sicherheit des Alten« wegzuducken: »Kleinfamilie, Religion, Nationalstaat«.
Der Exkurs über die Idee einer »sozialen Unionsbürgerschaft« hätte in diesem Sinne etwas länger ausfallen können. Die Antwort auf die Frage, wie in allen EU-Staaten ein diskriminierungsfreier Zugang zu Sozialleistungen für alle möglich wird, wie zudem über ein gestaffeltes System von Mindesteinkommen ein erster wirklicher Schritt hin zur Gewährung transnationaler sozialer Rechte gegangen werden kann, dürfte einer der Dreh- und Angelpunkte der Auseinandersetzung werden – auch in der gesellschaftlichen Linken. Es geht am Ende um die auch für organisatorische Substanz von Parteien entscheidende Frage, in welchem Rahmen die Umsetzung verteilungspolitischer Vorstellungen angestrebt werden sollen – national oder europäisch.
Kipping weiß natürlich, dass die Neoliberalisierer fest im Sattel sitzen und die Rechtspopulisten von der rhetorisch befeuerten Verunsicherung profitieren. Das wirft eine Frage auf: »Wenn die Kräfteverhältnisse aber momentan so sind, woher dann die Hoffnung?«
Kippings Antwort stützt sich auf drei Elemente: Erstens auf die Kämpfe, die schon laufen, ob es nun die der Prekarisierten, von Blockupy und der Geflüchteten selbst sind. Zweitens auf die gesellschaftlichen Vernunft, die in einem »grenzübergreifenden Postkapitalismus« liegt. Und drittens: Weil die Alternative zu einem radikalen Kurswechsel eine Barbarei wäre, die nicht nur unsagbares Leid über Menschen bringen, sondern für lange Zeit auch die Möglichkeiten linker Veränderung zunichte machen würde.
»Es gibt keinen Automatismus. Wir können verlieren«, schreibt Kipping. »Aber das werden wir mit Sicherheit, wenn wir stillhalten.« Also müssen wir uns bewegen.
»Wenn die Kräfteverhältnisse aber momentan so sind, woher dann die Hoffnung?«
Katja Kipping: Wer flüchtet schon freiwillig. Die Verantwortung des Westens oder: Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss. Westend Verlag 2016. 208 S., br., 16 €.