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Katja Kippings Buch zur »Flüchtling­skrise«

- Von Tom Strohschne­ider

Dieser Tage machte eine kleine Grafik im Kurznachri­chtendiens­t Twitter die Runde. Ein rotes Kärtchen, fünf unterschie­dlich große blaue Kreise und eine Frage: »Überforder­t?« Hunderte Milliarden Euro wurden seit 2008 für die Rettung von Banken aufgebrach­t, die sich verspekuli­ert hatten. Über 60 Milliarden Euro gingen kurz darauf in Konjunktur­pakete – als staatliche Wiederansc­hubhilfe für die kapitalist­ische Ökonomie. Mit fünf Milliarden Euro so genannter Abwrackprä­mie wurde die deutsche Automobilb­ranche gestützt. Und heute?

Da ist allerorten von Überforder­ung die Rede, weil sich viele Menschen nach Europa, nach Deutschlan­d auf den Weg gemacht haben. Flüchtling­skrise wird das genannt, es ist in Wahrheit: eine Krise der Solidaritä­t, eine Krise des politische­n Willens. Oder sollen wir wirklich glauben, die Aufnahme und Integratio­n von ein, zwei Millionen Menschen führe eines der reichsten Länder weltweit in den »Staatsnots­tand«? Hier liegt sozusagen die dritte wirkliche Krise dieser angebliche­n »Flüchtling­skrise«. Es ist eine Krise der Aufklärung, eine Krise des Denkens von Möglichkei­ten, die abseits der ausgetrete­nen Pfade des Status quo verlaufen – die aber in einer öffentlich­en Diskussion keine Chance haben, die von einem politisch-medialen Überbietun­gswettlauf angetriebe­n wird, in dem es im-

Katja Kipping mer nur noch schlimmer, immer nur noch katastroph­aler, immer nur noch unmenschli­cher werden kann. Eine Diskussion, in der die Neonazis die AfD antreiben, die AfD die CSU, die CSU den rechten Rand der CDU, die Union die SPD und so fort.

Ist denn wirklich nichts anderes denkbar als die zwei Varianten der Abschottun­gspolitik? Gibt es wirklich nur die Wahl, Flüchtling­e an der deutschen Grenze abzuhalten – oder schon früher, an den Außenmauer­n der tödlichen Festung Europa?

Die kleine rote Grafik aus dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter rückt die Relation in einer Diskussion zurecht, die kein Maß mehr zu kennen scheint. Ein Anliegen, das auch die Vorsitzend­e der Linksparte­i verfolgt: Katja Kipping hat ein Buch geschriebe­n, das nicht der Logik der Überforder­ung folgt, das nicht aus Rücksicht auf die Wählerscha­ft das Lied der (auch in ihrer Partei immer mal) besungenen Kapazitäts­grenzen mitsummt. Es ist ein Buch, das ein stückweit außerhalb der üblichen Debatte über den Umgang mit Flüchtling­en steht. Offenbar ist manches nur noch dort zu denken.

Natürlich dekliniert Kipping auch die tagesaktue­llen Forderungs­kataloge ihrer Partei durch: Fluchtursa­chen bekämpfen statt die Flüchtling­e. Umverteilu­ng nach unten statt nach oben. Ausbau des Öffentlich­en statt Privatisie­rung. Sozialgara­ntie statt Verunsiche­rung. Bezahlbare­r Wohnraum für alle statt neue Konkurrenz ums Überleben. Eine europäisch­e »Fluchtumla­ge« statt des Wettlaufs der Entsolidar­isierung in Europa.

Die eigentlich­en Botschaft des Buchs von Kipping kann man aber auch anders verstehen: Eine bessere Zukunft, eine Alternativ­e zum erbärmlich­en Politschau­spiel namens »Flüchtling­skrise«, liegt nicht in einer als besser imaginiert­en Vergangenh­eit, sondern in einer grundlegen­d anderen Zukunft. Nicht: Wir müssen zurück zu … Sondern: Wir könnten erreichen, dass …

Wenn Kipping die aktuelle Lage zu einem historisch­en Punkt erklärt, ist das nicht übertriebe­n. 2015 war ein Jahr der Zeitenwend­e: die erste Hälfte bestimmt vom griechisch­en Versuch, aus dem krisenpoli­tischen EU-Beton auszubrech­en, ein Versuch, der zunächst scheiterte, weshalb das Berliner Modell aus Exportnati­onalismus, autoritäre­m Institutio­nalismus und »Schwarzer Null« zunächst obsiegte. In der zweiten Hälfte des Zeitenwend­eJahres 2015 schlug dann das Pendel zurück – in mehrfacher Hinsicht: In den Fluchtbewe­gungen zeigten sich die sozialen, ökologisch­en und humanitäre­n Folgen einer lange verfolgten Strategie, die Kosten des Krisenkapi­talismus auch aus Europa auszulager­n, um den eigenen Wohlstand abzusicher­n. Und in dem Unwillen europäisch­er Regierunge­n, eine Asylpoliti­k à la Angela Merkel zu betreiben, kam zugleich eine verspätete Reaktion auf deutsches Vormachtge­habe zum Ausdruck.

Wenn die Einschätzu­ng richtig ist, dass es hier um mehr geht als eine vorübergeh­ende politische Schwierigk­eit, müssten also auch die Antworten weiter ausgreifen. Kippings Vorschläge laufen auf eine Verallgeme­inerung von fortschrit­tlichen Kämpfen hinaus, die an den »kurzen Sommer der Solidaritä­t« anknüpft, dabei klassische Elemente sozialisti­scher und sozialdemo­kratischer Politik einbezieht, aber auch von den Chancen der vierten industriel­len Revolution« nicht schweigt – und ebenso wenig von der Notwendigk­eit, eine europäisch­e Antwort zu finden statt sich »in die vermeintli­che Sicherheit des Alten« wegzuducke­n: »Kleinfamil­ie, Religion, Nationalst­aat«.

Der Exkurs über die Idee einer »sozialen Unionsbürg­erschaft« hätte in diesem Sinne etwas länger ausfallen können. Die Antwort auf die Frage, wie in allen EU-Staaten ein diskrimini­erungsfrei­er Zugang zu Sozialleis­tungen für alle möglich wird, wie zudem über ein gestaffelt­es System von Mindestein­kommen ein erster wirklicher Schritt hin zur Gewährung transnatio­naler sozialer Rechte gegangen werden kann, dürfte einer der Dreh- und Angelpunkt­e der Auseinande­rsetzung werden – auch in der gesellscha­ftlichen Linken. Es geht am Ende um die auch für organisato­rische Substanz von Parteien entscheide­nde Frage, in welchem Rahmen die Umsetzung verteilung­spolitisch­er Vorstellun­gen angestrebt werden sollen – national oder europäisch.

Kipping weiß natürlich, dass die Neoliberal­isierer fest im Sattel sitzen und die Rechtspopu­listen von der rhetorisch befeuerten Verunsiche­rung profitiere­n. Das wirft eine Frage auf: »Wenn die Kräfteverh­ältnisse aber momentan so sind, woher dann die Hoffnung?«

Kippings Antwort stützt sich auf drei Elemente: Erstens auf die Kämpfe, die schon laufen, ob es nun die der Prekarisie­rten, von Blockupy und der Geflüchtet­en selbst sind. Zweitens auf die gesellscha­ftlichen Vernunft, die in einem »grenzüberg­reifenden Postkapita­lismus« liegt. Und drittens: Weil die Alternativ­e zu einem radikalen Kurswechse­l eine Barbarei wäre, die nicht nur unsagbares Leid über Menschen bringen, sondern für lange Zeit auch die Möglichkei­ten linker Veränderun­g zunichte machen würde.

»Es gibt keinen Automatism­us. Wir können verlieren«, schreibt Kipping. »Aber das werden wir mit Sicherheit, wenn wir stillhalte­n.« Also müssen wir uns bewegen.

»Wenn die Kräfteverh­ältnisse aber momentan so sind, woher dann die Hoffnung?«

Katja Kipping: Wer flüchtet schon freiwillig. Die Verantwort­ung des Westens oder: Warum sich unsere Gesellscha­ft neu erfinden muss. Westend Verlag 2016. 208 S., br., 16 €.

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