Das Paradies der Kindheit: verloren
Mit diesem Buch durchbrach Alexander Ilitschewski (geb. 1970) die Schallmauer, die den russischen Roman von Tolstoi und Dostojewski bis Bulgakow und Schischkin auf national relevante Themen begrenzte, auch wenn diese von allgemeinmenschlicher Bedeutung waren. »Der Perser« (Literaturpreis »Das Große Buch« 2010) ist welthaltiger, ein innovatives Werk, das die Entwicklungstendenzen und Konflikte des 20. und 21. Jahrhunderts in globalen Dimensionen und enzyklopädischen Maßstäben darstellt. Die Romanfiguren denken über die Metaphysik des Erdöls und die kompliziertesten Probleme der Gegenwart nach, fragen sich, ob die zunehmenden Differenzen zwischen Moslems, Christen und Juden möglicherweise durch ein »Gen der nationalen Zwietracht« gesteuert werden. Natur- und Landschaftsräume (das Kaspische Meer, die Halbinsel Apscheron, die Region Schirwan), Lokalkolorit (Baku, Moskau, Amsterdam, Leiden) und Geschichtsbilder (die zerfallende Sowjetunion, der Iran der Schahs und der Mullahs, Aserbaidschan gestern und heute) überraschen durch eine neuartige Sicht. »Der Perser« ist eine Synthese aus verschiedenen Romantypen, am ehesten das, was Chlebnikow in Bezug auf sein poetologisches Vermächtnis »Sangesi« eine »Über-Erzählung« nannte, ein dynamisches »Bauwerk aus Erzählungen«.
Ilitschewskis Bauwerk ruht auf zwei tragenden Säulen: den fiktiven Gestalten des amerikanischen Wissenschaftlers Ilja Dubnow und seines Freundes Haschem Sagidi aus Iran. Weitere »Stützpfeiler« liefern einige historische Persönlichkeiten, die das Profil der dargestellten Epoche geprägt haben: der Dichter Welimir Chlebnikow, der die 1920 ausgerufene »Persische Sowjetrepublik« in seinen Gedichten preist, 1921 am Feldzug der »Persarmee« teilnimmt, in Iran als »Prophet« und »Blumenmullah« verehrt wird und in Baku mit dem Symbolisten Wjatscheslaw Iwanow über Kunst, theoretische Physik und Revolution diskutiert; der schwedische Ingenieur Alfred Nobel, der in Baku die »Nobel Brothers Petroleum Producing Company« gründet; der französische Bankier Edmond Rothschild, der den Aufbau der Ölindustrie finanziert; Koba, der junge Stalin, der sich durch Sabotageakte auf seine politische Rolle vorbereitet; die trotzkistischen Geheimagenten Jakow Bljumkin und Rudolf Abich sowie der Terrorist Osama bin Laden, der im Schirwan der Falkenjagd nachgeht.
Ilja Dubnow, der Erzähler des Romans und teilweise ein Alter Ego des Autors, ist Geologe, Mitte 30, Erdölexperte, manischer Fotograf und scharfsinniger Denker. Seine russische Familie wurde in den 1930er Jahren nach Aserbaidschan deportiert und wanderte sechzig Jahre später von Baku nach Kalifornien aus. Im Auftrag seiner Firma sucht Ilja Orte auf, an denen Erdöl gefunden wird. Seine besondere Begabung besteht darin, die Stimme des noch verborgenen Öls zu hören. Durch die Erforschung des Erdöls hofft Ilja, dem Geheimnis der Entstehung des Lebens auf die Spur zu kommen. Siebzehn Jahre nach seiner Ausreise besucht er seinen Schulfreund Haschem und die Orte seiner Kindheit – Baku, Apscheron und die Insel Art-
geführter islamischer Gottesstaat.
Haschem Sagidi, ein Ornithologe, der im Naturreservat Schirwan an der aserbaidschanisch-iranischen Grenze mit einer Gruppe von Hegern eine Falkenkolonie bewacht, ist der Perser, auf den der Romantitel verweist. Haschem ist 1979 aus Iran in das sowjetische Aserbaidschan geflüch-