Das Massaker von Ascq wird nun zur Strafsache
In dem französischen Dorf erschoss die SS im Jahr 1944 insgesamt 86 Zivilisten – Durchsuchungen bei ehemaligen Angehörigen der Terrortruppe
»Trauer um Deutschland« heißt Ihr gerade erschienenes Buch, in dem Sie über die Auseinandersetzung Deutschlands mit den Verbrechen der Wehrmacht schreiben. Warum trauern Sie um Deutschland? Die Idee ist schon in den späten 1960er Jahren entstanden, als ich das Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« von Alexander und Margarete Mitscherlich gelesen habe. Damals habe ich begriffen, warum es so schwierig ist, mit den Deutschen überhaupt über die Ereignisse zu sprechen und von Deutschland aus den richtigen Zugang zu den Opfern zu finden. Als ich dann vor 20 Jahren öfter nach Deutschland reiste, um Vorträge zu halten, schlüpfte ich in eine neue Rolle: Ich übernahm die Trauer für unsere Toten und die Ereignisse in Griechenland auf der einen Seite und trug zusätzlich all das mit, was in Deutschland vernachlässigt worden war. Sonst wäre gar kein Kontakt möglich gewesen. Definieren Sie so das »gemeinsame Schicksal« von Tätern und Opfern? Nicht unbedingt von Tätern und Opfern, sondern von Mitopfern. In Deutschland gab es ja auch Opfer im Krieg. Und das deutsche Volk als Ganzes war auch ein Opfer der Diktatur, obwohl sie zunächst sehr viele unterstützt hatten. Am Ende hatten aber wohl fast alle gemerkt, dass auch sie Opfer geworden sind. Im Fall von Griechenland waren alle von vornherein in dieser Rolle. Griechenland wurde besetzt und total ruiniert. Jeder Widerstand wurde mit der größtmöglichen Brutalität unterdrückt. Das traf ja nicht nur diejenigen, die Widerstand geleistet haben, sondern auch Unbeteiligte. Unschuldige Menschen wurden massakriert, um den Widerstand zu brechen. In Ihrem neuen Buch finden sich auch historische Dokumente. Bringen sie neue Erkenntnisse? Sehr neu sind die Erkenntnisse nicht, aber es sind Fakten, die das offizielle Deutschland nach wie vor nicht anerkennt. Dazu gehört das, was ich schon vor 20 Jahren als Distomo-Lüge bezeichnet habe: das Argument der deutschen Bundesregierung und des Auswärtigen Amtes, nach dem es sich bei den Massakern der Wehrmacht in Griechenland nicht um Kriegsverbrechen und NS-Unrecht gehandelt habe, sondern um Maßnahmen im Rahmen der Kriegsführung. Diese These war 1944 durch die falsche Berichterstattung der Täter entstanden. Doch diese Darstellungen wurden durch Berichte des deutschen Oberkommandos Südost in Thessaloniki selbst entlarvt, weil auch ein Mitglied der Geheimen Feldpolizei dabei war und einen wahrheitsgetreuen Gegen drei SS-Männer, die 1944 an einem Massaker in Frankreich beteiligt gewesen sein sollen, ermittelt jetzt die Staatsanwaltschaft. Die Einheit, der die drei angehörten, hatte 86 Zivilisten ermordet. Eine Detonation zerreißt in der Nacht zum 2. April 1944 die dörfliche Stille in Ascq, einem 3500 Einwohner zählenden Ort in Nordfrankreich unweit der Grenze zu Belgien. Auf der nahen Eisenbahnstrecke sind zwei Waggons durch eine Explosion aus den Schienen geworfen worden – eine Aktion von Widerständlern gegen Bericht geschrieben hat. Er hat die Darstellung der Verantwortlichen der Massaker als wissentlich falsche Berichterstattung zurückgewiesen. Aber auf diese Falschdarstellung beharrt die Bundesregierung noch heute. Sie hat nie eine andere Position eingenommen oder sich gar entschuldigt. 1995 hieß es noch: »Nach Auffassung der Bundesregierung sind Vergeltungsaktionen wie gegen das Dorf Distomo nicht als NS-Tat zu definieren (…), sondern als Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung, denn sie stellten Reaktionen auf Partisanenangriffe dar.« Und das ist das Absurde. Denn mit diesem Satz sagt die Bundesregierung im Grunde, dass der Krieg keine NS-Tat war. Dabei ist ja der ganze Krieg und alles, was folgte, nur aufgrund der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland geschehen. Die Differenzierung der Bundesregierung kann ich logisch also gar nicht nachvollziehen. Die Politik der NSDAP hat schließlich eine wesentliche Rolle bei der Art der Kriegsführung gespielt. die Besetzer aus Hitlerdeutschland. An Bord des Zuges: Angehörige der Waffen-SS.
Alle kommen mit dem Leben davon. Doch ihr Abteilungschef, Obersturmführer Walter Hauck, übt grausame Rache. Er lässt 86 männliche Dorfbewohner, 17 bis 75 Jahre alt, erschießen; 16 noch im Ort, darunter den Pfarrer. Weitere 70 Zivilisten müssen die Schienenstrecke entlanglaufen, während die Deutschen das Feuer eröffnen.
Als »Massaker von Ascq« ist dieser Mord in die Kriegsgeschichte eingegangen. Womöglich droht Tätern von damals nun ein Strafprozess. Aufgrund von Hinweisen eines Überle- Wie sieht es um die aktuelle Griechische Regierung aus? Im vergangenen Jahr wurde aus Athen vielfach die Forderung von Entschädigungszahlungen erhoben, auch die Summe der Schäden sollte neu berechnet werden. Zuletzt hat man davon nichts mehr gehört. Nein, das glaube ich nicht. Das Thema ist in den Hintergrund getreten, weil die griechische Regierung innerhalb der EU sehr in die Defensive geraten ist. Auch von Deutschland ist ja mehr oder weniger offen versucht worden, diese Regierung zu stürzen, weil sie zu links war oder schlichtweg nicht ins Konzept passte. Das hatte ja auch eine vernünftigere wirtschaftliche Lösung verhindert, die selbst vom Internationalen Währungsfonds gefordert worden war. Aber in der Frage der Aufarbeitung der Verbrechen der Wehrmacht ist vom Parlament eine wichtige Arbeit geleistet worden, gegebenenfalls auch für die juristische Aufarbeitung. Ich persönlich denke übrigens, dass man angesichts der Blockadehaltung Deutschlands die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs wieder einschalten müsste. Ist Ihr Buch auch ein Versuch, die Debatte voranzubringen, weil juristisch nicht mehr viel Handlungsspielraum besteht? Juristisch besteht tatsächlich nur noch sehr wenig Spielraum, wobei es auf höchster Ebene schon noch Möglichkeiten gibt. Und wenn es nicht zu politischen Verhandlungen kommt, wird die Sache ganz sicher juristisch geklärt werden müssen. Es gibt, wie ich kürzlich erfahren habe, ja sogar noch einen Schiedsgerichtshof in Koblenz, der für das Londoner Schuldenabkommen von 1953 zuständig ist. Dieses Gericht ist derzeit zwar nicht besetzt, aber es ist nicht aufgelöst. Es kann wohl jederzeit durch die westlichen Großmächte wieder mit Rich- benden aus Ascq hatte die Staatsanwaltschaft Dortmund schon vor einiger Zeit Ermittlungen eingeleitet. Zeugen wurden gesucht, gefunden und befragt, alte Unterlagen gesichtet. Schließlich reichten die Erkenntnisse aus, um fünf Durchsuchungsbeschlüsse auszustellen: für die Wohnungen ehemaliger SS-Männer.
Zwei von ihnen leben heute im Raum Dresden, einer in Nordstemmen, einem kleinen Ort im Süden Niedersachsens. Die Männer, alle um die 90 Jahre alt, gehörten seinerzeit zur SS-Panzerdivision »Hitlerjugend« und waren in Ascq eingesetzt. Auch in Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen wurde durchsucht, die dort wohnenden früheren SS-Soldaten gelten jedoch nicht als Beschuldigte, es ging bei ihnen allein um das Sicherstellen von Beweismaterial. Wie es heißt, hatten die beiden Männer »umfangreiche Unterlagen« zu der in Ascq wütenden Einheit angelegt.
Ermittelt wird wegen Verdachts des Mordes und Beteiligung am Mord, erläuterte Oberstaatsanwalt Andreas Brendel im Gespräch mit »nd«. Durchsucht worden seien die Wohnungen, um Hinweise auf das Tatgeschehen zu erhalten: persönliche Aufzeichnungen, Tagebücher, Dokumente über den Werdegang der Beschuldigten und über die SS-Einheit. Entdeckt worden sei »eine gan- Wenn man die deutschen Kriegsverbrechen nicht zu Ende diskutiert und vor allem das schuldige Land nicht Farbe bekennt und Entschädigungen zahlt, dann hat es bei entsprechenden Anklagen gegen andere Länder keine Glaubwürdigkeit mehr. Im Grunde müssten über die UNO alle Kriegsverbrechen geahndet und Entschädigungszahlen geregelt werden. Dafür setze ich mich ein, auch wenn ich nicht erwarte, ein Ergebnis dieses Strebens zu erleben. Es muss dazu kommen, dass Angriffskriegen und Kriegsverbrechen automatisch Entschädigungen folgen. Dann würden sich Kriege nicht mehr lohnen. Denn der Grund für Kriege war in der Menschheitsgeschichte immer Profitstreben. ze Menge«, berichtet Brendel. Details dazu könne er noch nicht sagen, da das Gefundene zunächst an das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen gegangen ist, an die dort arbeitende »Ermittlungsgruppe Nationalsozialistische Gewaltverbrechen«.
Die SS-Panzerdivision »Hitlerjugend« setzte sich überwiegend aus sehr jungen Männern zusammen. Die meisten waren 1943, erst 17-jährig, aus der »HJ« in diese Einheit geworben worden. Aus ihr heraus wurden weitere Kriegsverbrechen begangen, so auch die Erschießung von mindestens 187 kanadischen Kriegsgefangenen. Für diese Tat war allerdings eine andere Teileinheit ver- antwortlich als die in Ascq eingesetzte Truppe. Doch auch gegen sie richten sich weitere Vorwürfe. Unter anderem wird ermittelt, ob ihr die Tötung eines US-amerikanischen Fallschirmspringers auf deutschem Boden zur Last gelegt werden kann.
Sturmführer Hauck, der den Schießbefehl in Ascq gegeben hatte und auch für ein Massaker an 26 Zivilisten im tschechischen Leskovice verantwortlich war, wurde nach Kriegsende in Frankreich verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Strafe wurde jedoch in Gefängnis umgewandelt; schon 1957 war der Kriegsverbrecher wieder in Freiheit, 2006 starb er in Deutschland.