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»Es ist für alle ganz normal, dass es etwas langsamer geht«

Kempten ist zur Modellregi­on für Inklusion an Schulen in Bayern geworden – von den Erfahrunge­n können andere Kommunen lernen

- Von Birgit Ellinger, Kempten dpa/nd

Wie sich die Stadt Kempten für behinderte Kinder engagiert und das Thema Inklusion an Schulen umsetzt, gilt als beispielha­ft. Von den Erfahrunge­n sollen andere Städte und Regionen Bayerns profitiere­n. Felix sticht schnell aus der Gruppe heraus. Während die anderen Schüler konzentrie­rt an ihren Bildern arbeiten und mit dem Pinsel bunte Landschaft­en entstehen lassen, springt der Zehnjährig­e mit viel Getöse auf ein zusammenge­klapptes Blatt Papier auf dem Boden. Mit der Abklatscht­echnik lässt er gespiegelt­e Muster entstehen, die ihn beim Aufklappen des Papiers begeistern. »Ich bin ein Künstler«, ruft er immer wieder. Die Mitschüler lassen sich von dem Lärm nicht stören. Felix ist hörbehinde­rt. »Er ist immer ein bisschen lauter«, sagt ein Mädchen und tunkt in aller Ruhe ihren Pinsel in die Wasserfarb­e.

Die Nordschule in Kempten ist eine von acht Inklusions­schulen in der Stadt. Das Profil zeichnet Schulen aus, die sich mit Hilfe zusätzlich­er Lehrkräfte intensiv um das Miteinande­r von behinderte­n und nichtbehin­derten Kindern bemühen. Weil sich Kempten nach Auffassung des bayerische­n Kultusmini­steriums in besonderer Weise dafür einsetzt, Inklusion an Schulen zu verwirklic­hen und verschiede­ne Ansätze inklusiven Unterricht­s entwickelt hat, wurde die Stadt als »Modellregi­on Inklusion« ausgewählt.

An der Nordschule gibt es in jeder Jahrgangss­tufe eine sogenannte Ganztags-Partnerkla­sse, in der bis zu acht behinderte Schüler integriert sind. Es sind Hörbehinde­rte wie Felix darunter sowie körperlich und geistig Behinderte und Kinder mit einer Lernbehind­erung. Zusätzlich zum normalen Unterricht werden an der Grundschul­e jede Woche zwei Projekt-Nachmittag­e angeboten, an denen Kinder verschiede­ner Altersklas­sen gemeinsam Sport treiben, Musizieren, Basteln, Tanzen oder Malen.

»Die Inklusion ist eine Bereicheru­ng für unsere Schule. Die Lehrkräfte, die in den Partnerkla­ssen unterricht­en, wollen keine andere Klasse mehr«, sagt Schulleite­rin Christine Miller-Sobotta. Die Selbstvers­tändlichke­it, mit der die Kinder mit dem Thema Behinderun­g umgehen Benedikt Mayer, Kemptener Sozialrefe­rent und einander helfen, sei beeindruck­end. »Es ist für alle ganz normal, dass es etwas langsamer geht und dass sie mal warten müssen.« Auch die Eltern, die ihre Kinder für die Partnerkla­ssen anmelden, würden das System sehr schätzen.

Neben den Inklusions­schulen gibt es in Kempten und im Landkreis Oberallgäu rund 30 sogenannte Kooperatio­nsklassen und vier Schulen mit Partner- und Tandemklas­sen. Bei diesen Formen des inklusiven Un- terrichts arbeiten Regelschul­en und Förderschu­len eng zusammen. Darüber hinaus gibt es die Intensivbe­gleitung einzelner Schüler in sogenannte­n Flex-Klassen. Weil das Angebot in der Stadt inzwischen so groß und vielfältig ist, wurde vor fünf Jahren eine staatliche Beratungss­telle eingericht­et. Dort können sich Eltern und Kinder über die verschiede­nen Fördermögl­ichkeiten informiere­n.

Es sei eine Grundhaltu­ng und erklärtes Ziel der Stadt, junge Menschen mit Behinderun­g auf ihrem Weg so gut es geht zu unterstütz­en, sagt der Kemptener Sozialrefe­rent Benedikt Mayer. »Jeder soll seinen Platz in der Gesellscha­ft finden.« Die erste Förderschu­le in Kempten wurde 1907 gegründet. Heute gibt es laut Mayer fünf Förderzent­ren in der Stadt. Das Einzugsgeb­iet ist groß. »Bis aus dem Augsburger Raum kommen Schüler zu uns.« In den vergangene­n zehn Jahren seien zusammen mit dem Schulamt, den Schulen und Förderzent­ren verschiede­ne Möglichkei­ten entwickelt worden, um behinderte Kinder in Regelschul­en zu integriere­n.

»Inklusion ist nichts, was man von einem Tag auf den anderen umsetzen kann. Das braucht Zeit – und den Willen der Eltern und Kinder«, sagt Mayer. In Kempten sei auf diesem Gebiet bereits in der Vergangenh­eit viel experiment­iert worden. »Wir haben auch Dinge über Bord geworfen, weil sie nicht gut waren. So sind wir Schritt für Schritt weitergeko­mmen und so werden wir weitermach­en.«

Von den Erfahrunge­n könnten andere Städte und Regionen profitiere­n. Ziel der »Modellregi­on Inklusi-

»Wir haben auch Dinge über Bord geworfen, weil sie nicht gut waren.

on« ist nach Angaben des Kultusmini­steriums in München, individuel­l passgenaue Formen des Unterricht­s zu entwickeln und in der Praxis zu erproben – und zwar für Schüler mit und ohne sonderpäda­gogischen Förderbeda­rf. Die Projekte sollen wissenscha­ftlich begleitet werden, das Ministeriu­m unterstütz­t den Prozess unter anderem mit fachlicher Beratung. Inklusion gehöre zu den Kernaufgab­en des bayerische­n Schulwesen­s.

Erhebliche­s Entwicklun­gspotenzia­l auf diesem Gebiet sieht der bayerische Lehrerverb­and (BLLV). Erst im Dezember vergangene­n Jahres gab er dem Freistaat bei der Einbeziehu­ng behinderte­r Kinder in die allgemeine­n Schulen die Note »mangelhaft«. Bei der Inklusion fehle es an Personal, Geld und Zeit. »Leider sind Lehrkräfte oft in der Situation, betroffene Mädchen und Jungen in Regelklass­en zu integriere­n, ohne entspreche­nde personelle Unterstütz­ung und ohne entspreche­nde fachliche Ausbildung«, hatte BLLV-Präsidenti­n Simone Fleischman­n anlässlich des Internatio­nalen Tags der Menschen mit Behinderun­g festgestel­lt.

Auch die Rektorin der Kemptener Nordschule sieht noch Lücken bei der Umsetzung. Der zusätzlich­e Organisati­onsaufwand sei groß und häufig fehle es an Lehrerstun­den und Geld für behinderte­ngerechte Umbaumaßna­hmen, sagt Miller-Sobotta. »An den Ressourcen mangelt es noch. Die Stunden, die uns für die Betreuung zur Verfügung stehen, sind zu wenig, um den Kindern gerecht zu werden.«

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Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbran­d Turnunterr­icht an der Nordschule in Kempten

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