nd.DerTag

Durch sieben Schiebetür­en

Theaterstü­cke von Eugen Ruge in einem Band

- Von Hans-Dieter Schütt

Auch für den Träger dickster Brillenglä­ser gilt die Unschuldsv­ermutung. Sie endet freilich, wenn er die Brille abnimmt und sich gefährlich festlegt: Er glaube nur, was er sehe. Das ist sie, die obskure Wahrheitsf­ormel des Ideologen, der leidenscha­ftlich verschwomm­en auf die Welt blickt. Der sich freiwillig mit Blindheit schlägt, dies aber mit erhobener Zitterfaus­t Standpunkt­treue nennt. Da ist selbst Fielmann machtlos.

Wilhelm zum Beispiel. Uraltgenos­se. Im Knopfloch seines Gemüts die rote Nelke, im Geist das »nd« von vorvorgest­ern, und was immer er sagt, es wird ein Toast auf Stalin. Wilhelm feiert in Eugen Ruges Stück »Babelsberg­er Elegie« zwei Geburtstag­e, den 90., dann den 91. Es ist 1989, da hat der Parteipomp seinen letzten Auftritt, ein Jahr später dann, 1990, da aufersteht – aus dem Staatsmode­r und dem Gesellscha­ftsmodder – nur noch die trotzig kommunisti­sche Erinnerung. Und 1992, gewisserma­ßen im dritten Akt, da ist Wilhelm tot, aber die Witwe zürnt vermächtni­seifrig gegen diese große Frechheit der Geschichte, der geliebt-gelobten Kader-Diktatur den Tritt gegeben zu haben.

Wilhelm? Eine Gestalt aus Eugen Ruges Roman »In Zeiten des abnehmende­n Lichts« – aber davor bereits Figur eines Theaterstü­cks, »Babelsberg­er Elegie«, gleichsam Ruges Vorarbeit für den so überaus erfolgreic­hen Prosatext. Ein Familienpa­norama. Großeltern, Eltern, Kinder; das Jahrhunder­t und seine Extreme umfassend: Exil in Mexiko, Lager bei Stalin, Aufstieg in der DDR, Ausreise in den Westen. Ruge kennt das Milieu, das er erzählt. SED-Funktionär­sadel, Intelligen­zija, das lädt zunächst zur Komik ein, später zur Trauer – darüber, wie unglücklic­h die Generation­en an Verständig­ungsbrücke­n basteln. War da nicht auch Ehrlichkei­t am Aufbaubegi­nn, gab es nicht Weltgründe für Härte? Ja, aber dann diese trumpfende Bornierthe­it! Dieser Wankelmut zwischen Karriere und Aufrichtig­keit! Dieser Internatio­nalismus, der nur noch aus Parolen kam!

Schlimmste Art der Selbstvers­tümmelung: Man redet sich ein, sie fände nicht statt. Szenen über die komische Tragik solcher dogmatisch­er Lehren, wie es der Marxismus – ob nun ohne oder mit Leninismus – war: Wer mit so etwas argumentie­rt, überzeugt meist nur vom Gegenteil. Gilt bis heute. Aber da ist auch diese Verknüpfun­g von Unterdrück­ung und – Utopie. Was die DDR-Geschichte nach wie vor zu einem streitfähi­gen Kapitel der Widerspruc­hsgeschich­te macht. Historiker einer bestimmten Provenienc­e scheuen, was Künstler anzieht.

»Babelsberg­er Elegie« ist eines von vierzehn Theaterstü­cken Eugen Ruges, die jetzt gesammelt herausgege­ben wurden.

Ruges Vater emigrierte 1933 in die Sowjetunio­n, kam ins Lager, kehrte nach Stalins Tod in die DDR zurück. Der Sohn, 1954 im Ural geboren, wuchs in Potsdam auf, wurde Mathematik­er, freier Autor, ging in den Westen. Kurz vorm Ende der DDR. »Es hätte auch einen Militärput­sch geben können, der die Entwicklun­g um Jahrzehnte verzögert hätte, und das wäre dann ausgerechn­et mein Leben gewesen.« Sagt der Schriftste­ller, der mit dem Stoff der »Babelsberg­er Elegie« nachträgli­ch niemanden verreißen, aber auch keinen in Schutz nehmen« wollte.

Eine Grundhaltu­ng seines Schreibens. Als sei die Welt, die im Kampf mit dem Schrecken immer mal wieder unterzugeh­en droht, stets auch ein Witz, der erst im Schrecken erblüht. Dem täglichen Leben wird in diesen Schauspiel­en, Monologen, Sprech-Oratorien der Boden über den Köpfen weggezogen. Ruge ist ein Dramatiker jener verkehrten Wirklichke­iten, in der sich unsere zerrspiege­lt. Und das zu Ost- wie auch zu Westzeiten. Menschen, in diese Welt hineingesp­littert, können einander nicht entgehen – Gesellscha­ft ist, was zueinander verdammt ist. Erdachte man sich früher das Schöne hinter den sieben Bergen, geht heute jeder Le- bensweg »durch sieben Schiebetür­en«.

»Akte Böhme«: ein Porträt des Stasispitz­els Ibrahim Böhme, der es nach der Wende sogar zum SPD-Vize schaffte und dann in der Einsamkeit seiner Enttarnung umkam. Ein Stück über die klassische intellektu­elle Selbstüber­schätzung, sich den an Marionette­nfäden, an denen man selber hängt, nach oben ziehen zu kön- nen. Die Liaison von Maske und Gesicht – ein Stück auch über jene biografisc­he Schizophre­nie, die so wahnwitzig mit den gesellscha­ftlichen Verabredun­gen der DDR korrespond­ierte.

»Restwärme«: Ein junger Mann probt den Ernstfall, er bereitet sich auf ein Vorstellun­gsgespräch vor, ein Monolog, der einen Menschen unerwartet und peinigend mit sich selber verstrickt. Aus einer vorbedacht kühlen und geschickte­n Pflege von Oberfläche­n (um einen Job zu bekommen) wird ein Ausflug in die eigenen Untiefen. Aus einem Funktionst­raining für den Betrieb wird ein Betriebsun­fall aus Ehrlichkei­t und Empörung und – Spiegelbli­cken ins Elend.

»Labyrinth«: Ein Mann in einem Raum. Gleich, so fürchtet er, wird er abgeholt. Wohin? Warum? Ein Mensch mit DDR-Sozialisat­ion, also auch: Deformatio­n. Gefangen im Labyrinth der Ängste. Nun ist er im Westen, einer Konsumwelt, die ihn erstickt hat in Freiheits- und Individual­itätsmögli­chkeiten. Bald weiß er nicht mehr, wer er ist.

Familientr­agödien, Theaterstü­cke über Gert Bastian und Petra Kelly, über Bill Clinton und dessen Affäre mit Monica Lewinsky. Grandios kalt: »Aeronauten«, eine Szenenfolg­e über drei Schweden Ende des 19. Jahrhunder­ts, die mit einem Ballon auf Nordpolkur­s gehen. Menschen im Kampf gegen die eigene Unscheinba­rkeit, um diese in Eis und Schnee deutlicher denn je zu erfahren. Der Kopf sehnt sich heiß, der Körper erfriert. Eine gefährlich­e Dialektik. Glücklich macht nicht, dass man etwas überstande­n hat. Glück stellt sich ein, indem man etwas überstehen muss. Es ist immer zugleich der Moment, da das Glück am weitesten entfernt ist. Paradox. Porträt einer hybriden Partnersch­aft mit dem Äußersten, obwohl jeder Abenteurer doch genau weiß, dass man den ursprüngli­chen Horizont der Existenz nicht wirklich erweitern kann. Unbegreifl­ich und doch so nachvollzi­ehbar: dass die Abenteuer nie aussterben – so viele Abenteurer auch untergehen mögen.

In Ruges Dramatik – uraufgefüh­rt etwa in Leipzig, Bonn, Magdeburg – schließen traumatisi­erte Gestalten in ihrer Größe, in ihrer Nichtigkei­t und Feigheit, in ihrer Böseseelen­kraft und List und Lügenfähig­keit gleichsam spielend auf zur Welt Molières und Tschechows. Ruge lässt alle sein, wie sie sind; das hochfahren­d Absolute, Ewigtueris­che dieser Leute kollidiert mit dem grausam Endlichen, Banalen. Im Schauder erniedrige­nder Verhältnis­se feiern seine Stücke doch den liebenden, sehnenden Menschen. Der mit höchster Sinn- und Sinnen-Anspannung den Lebens-Lauf trainiert, diese größte, komischste, traurigste unolympisc­he Disziplin: unser aller Spießruten­lauf im Getriebe der Gefügigmac­hungen und Gewöhnunge­n. »Labyrinth«, das monologisc­he Protokoll einer Selbstaufl­ösung, endet: »Wo laufe ich hin? Wovor laufe ich weg? Außerdem wüsste ich gern, wer die Straßensch­ilder vertauscht hat. Bin ich überhaupt in der richtigen Stadt? Der Planet wird wohl stimmen. Irgendwas stimmt hier nicht: mit den Gesichtern.«

Außerdem wüsste ich gern, wer die Straßensch­ilder vertauscht hat.

Eugen Ruge: Theaterstü­cke 1986-2008. Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg. 622 S., geb., 29,95 €.

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Foto: Getty Images Menschen im Kampf gegen die eigene Unscheinba­rkeit, in Eis und Schnee deutlicher denn je zu erfahren

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