Die Angst vor dem Schlagbaum
Deutsche Wirtschaft wäre von Grenzschließungen hart getroffen
Die international vernetzte Wirtschaft warnt vor mehr Grenzkontrollen in Europa und befürchtet Milliardenkosten. Experten halten manche Sorgen aber für übertrieben. Die Wirtschaft macht mobil: Wegen des Flüchtlingsproblems wird das pass- und kontrollfreie Reisen innerhalb der 26 Schengen-Staaten Stück für Stück eingeschränkt. Nachdem einige EU-Länder wie Schweden und Österreich ihre Grenzkontrollen sogar massiv verstärkt haben, warnen deutsche Unternehmensverbände vor negativen wirtschaftlichen Folgen, sollten die Schlagbäume in der EU fallen.
Industrie, Transporteure und Touristen, Handwerker, Dienstleister und Einzelhandel – sie alle profitieren von offenen Grenzen. Zähe Grenzkontrollen verzögern dagegen den Reise- und Warenverkehr. Das erhöht die Kosten, verteuert Reisen und Warenlieferungen. Staus und Wartezeiten, mehr Bürokratie und Lagerhaltung sowie zusätzlicher Treibstoffverbrauch wären die Folgen. Schiffe werden in den Häfen aufgehalten, Fahrpläne der Bahn müssen angepasst werden, die Abfertigung an Flughäfen würde noch länger dauern. »Wenn die Grenzen schließen, verändert sich unsere Wirtschaftsstruktur«, befürchtet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). »Die Kosten für die deutsche Wirtschaft können sich schnell auf zehn Milliarden Euro pro Jahr summieren«, sagt DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben.
Mit der Nennung dieser Zahl hatte Wansleben seinem Ziel allerdings einen Bärendienst erwiesen. Er wurde in Wirtschaftskreisen heftig kritisiert. Insgesamt setzt Deutschland im Außenhandel nämlich rund 2,6 Billionen Euro um – was sind da schon zehn Milliarden Euro?
Vor diesem Hintergrund legte Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverbandes BGA, noch einen drauf: Ohne offene Grenzen kann »die Exportnation ihren Wohlstand nicht mehr erwirtschaften und die Sozialsysteme nicht mehr finanzieren – und zwar auf Jahrzehnte!« Zugleich würde das Vertrauen in den Wirtschaftsraum Europa sinken, so Börner: »In einem nächsten Schritt würde der Euro zerfallen – Europa hängt sich an den Nagel.«
Differenziertere Töne kommen vom linken Ökonomen Rudolf Hickel. »Deutschlands Wirtschaft hat in der Vergangenheit geradezu maßlos profitiert von der Grenzöffnung – logisch, dass sie nun der Hauptverlierer einer Grenzschließung wäre«,
Rudolf Hickel, Ökonom sagte Hickel im nd-Gespräch. »Es spielen aber weniger die unmittelbaren monetären Folgen eine Rolle, als die indirekten Wirkungen.« Und die würden nicht allein Deutschland treffen, sondern beispielsweise auch Polen. So habe beispielsweise ein großer Süßwarenhersteller in Bremen sein Verpackungswerk in unser östliches Nachbarland verlegt. Schlagbäume würden solche grenzüberschreitenden Logistikketten empfindlich treffen. Das gelte auch für die Just-in-time-Produktion etwa in der Autoindustrie. »Die Lager fahren heute auf der Autobahn.« Die gegenseitige Abhängigkeit der Volkswirtschaften in Europa sei über alle Grenzen hinweg groß.
Zollkontrollen und Staus vor Schlagbäumen würden außerdem besonders Millionen Pendler in den Grenzregionen treffen. Aus Südbaden oder dem Elsass kommen laut einer Studie mehr als 20 Prozent aller Beschäftigten in der Nordwestschweiz. Die Schweiz ist zwar kein EU-Land, gehört aber dem Schengenraum an. Grenzgänger-Löhne fließen in Milliardenhöhe nach Südbaden. Tagestouristen und Einkaufspendler beispielsweise aus Dänemark beleben aber auch im nördlichen Schleswig-Holstein die Einkaufzonen.
Ein regelrechter Kollaps infolge von Grenzschließungen droht Europas Wirtschaft allerdings wohl nicht. »Ich glaube, man muss die Kirche im Dorf lassen«, sagte etwa Clemens Fuest in einem Interview mit dem Südwestrundfunk. Grenzkontrollen seien zwar problematisch für Unternehmen, die Waren im- oder exportierten. Aber es komme darauf an, »wie man das Ganze organisiert«. Von einem sich androhenden Debakel für die Wirtschaft zu reden, sei jedenfalls übertrieben, so der eher rechte Ökonom, der das Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim leitet. Für Fuest steht fest, dass die Konjunktur größtenteils verschont bleibt. Allerdings prognostiziert er, dass sich der konjunkturelle Schwerpunkt Deutschlands statt wie bisher auf den Export nun zum Binnenmarkt verlagern wird.
Hier sieht auch Rudolf Hickel die Unternehmer gefordert. Die jetzt von der Wirtschaft angestoßene Art der Grenzdiskussion findet er »sehr borniert«. Wer offene Grenzen wolle, müsse sich auch fragen lassen, was er denn selbst für die Integration der Flüchtlinge tue. »Dazu hört man wenig und dann vor allem, wie können wir billige Arbeitskräfte rausziehen.«
Und gar nicht in dieses Bild der Offenheit passten Drohgebärden, Griechenland aus dem Schengenraum ausschließen zu wollen.
»Deutschlands Wirtschaft hat in der Vergangenheit geradezu maßlos profitiert von der Grenzöffnung.«