In Krakow beim heiligen Lech
Junge Polen zwischen Business, Bohème und etwas Politik
Die Rechtsregierung arbeitet ungerührt von Protesten aus dem Inund Ausland ihre Agenda ab. So gerät kein Besuch bei den polnischen Nachbarn völlig neben die Tagespolitik. In Krakow, der ewigen Rivalin des trendigen Warschau, lässt sich vielleicht ein wenig polnische Mentalität studieren. Die Kathedrale, die den prächtigen Burgberg Wawel überragt, beherbergt eine beeindruckende Reihe prachtvoller Sarkophage vom frühen Mittelalter bis in die Gegenwart. Auf manchen Gräbern entdeckt man frische kleine Kränze, sämtlich mit der ungarischen Fahne geschmückt. Sie spielen auf die vielfältigen dynastischen Verflechtungen an, die es während des Mittelalters zwischen Böhmen, Ungarn und Polen gab.
Heute mischt diese Verbindung – inzwischen gehört auch die Slowakei dazu – als Visegrád-Gruppe die EU auf. Indem das Ungarn Viktor Orbáns, Prototyp eines Modells »illiberaler Demokratie«, seinen polnischen Partnern die Reverenz erweist, macht es ganz beiläufig seinen Führungsanspruch geltend.
Am Ende des Ganges durch die Krypta der Kathedrale steht der Sarg des Ex-Präsidenten Lech Kaczyński, der 2010 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam – selbstverständlich mit dem Rot-Weiß und dem Adler der polnischen Fahne. Eine ältere Frau scheint sich am Sarg abzustützen, doch bei genauerem Hinsehen wird schnell klar, dass sie gerade eine Kulthandlung vollzieht; der Sargdeckel dient dabei als Kontaktreliquie des ihr heiligen Lech.
Krakau ist sehr übersichtlich: Der Rynek Główny, der Hauptmarkt, ein einzigartiges, symmetrisch angelegtes Ensemble aus repräsentativen Bürgerhäusern und Adelspalais aus Mittelalter und Renaissance, bildet das Zentrum. Wiener Fiaker, Cafés sowie Piroggen- und Wurststände machen ihn zu einem touristischen Hotspot. Doch auch die auffällig elegant gekleideten Krakauer flanieren hier gern. Selten sieht man mal einen Geschäftsmann mit den Daumen am Smartphone über dieses riesige Areal hasten. Die Parkanlagen des Planty, der die Altstadt wie ein grüner Gürtel umschließt, laden ein zum Müßiggang.
In einem beliebten Restaurant nahe dem Wawel treffe ich Diana und Bogodar. Das Lokal ist überfüllt, Bier fließt in Strömen und ständig tragen uniformierte Kellner gewaltige Platten mit aufgetürmten, dampfenden Fleischgerichten vorbei.
Diana hat in ihrem Leben vieles richtig gemacht. Vor 14 Jahren kam sie nach Krakow, um an der Jagiellonen-Universität Romanistik zu studieren. Nach einem Volontariat bei einem polnischen TV-Sender entschied sie sich für einen Wechsel in die Wirtschaft. Heute hat sie einen gut bezahlten Job in der Kommunikationsabteilung eines internationalen Finanzinstituts. »Trotzdem reichte das Geld nicht für ein Haus in Krakow, höchstens für eine Wohnung. So haben wir uns dafür entschieden, ein Reihenhaus in Wieliczka zu kaufen.«
Wieliczka ist für sein historisches Salzbergwerk bekannt – UNESCOWeltkulturerbe seit 1978. Es zieht nicht nur Touristen, sondern immer mehr junge Familien an. Täglich legt Diana die knapp 20 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zurück. »Bei gutem Wetter kann man Kazimierz am linken Weichselufer – das ehemalige jüdische Viertel Krakows ist heute besonders wegen seiner trendigen Bars und Cafés in Häusern mit bröckelnder Fassade angesagt – auch bequem mit dem Fahrrad erreichen«. Das ist keine Selbstverständlichkeit in einem Land, in dem das Auto immer noch Statussymbol Nummer Eins ist.
Wichtig war eine sorgfältige Wahl des Wohnortes auch, weil für Sohn Bruno, der heute die erste Klasse besucht, eine geeignete Schule gefunden werden musste. Die polnische Bürokratie sorgte hier für Verwirrung: »In den letzten drei Jahren wechselte das Einschulalter zweimal: von sieben auf sechs, was dann wieder rückgängig gemacht wurde.« Auch die politische Lage ist äußerst instabil. Fehlende Parteibindungen und zerfallende Milieus sorgen für große Wählerwanderungen, worunter derzeit besonders die Linke leidet.
Bogodar bringt es auf die Formel: »Polen – ein Land der Widersprüche«. Als Beispiel führt er die Modeindustrie an: » Das Label ›Teraz Polska‹ (Polen jetzt) soll eigentlich für polnische Produkte werben. Gleichzeitig verstecken sich aber viele polnische Firmen hinter Namen wie Gino Rossi (Schuhe), Big Star (Jeans), Wittchen (Accessoires, Taschen).« Westliche Marken verfügen immer noch über hohes Prestige: »Adidas hat es geschafft, als Synonym für Sneaker und Sportschuhe aller Art durchzugehen – und das, obwohl die polnische Fußballnationalmannschaft traditionell von Nike ausgerüstet wird.«
Wenig hält Bogodar davon, »ein angeblich westliches, konsumorientiertes und liberales ›Polen A‹ gegen ein rückständiges, katholisch und agrarisch geprägtes ›Polen B‹ auszuspielen. Der Sozialismus hat die Vereinheitlichung eines Landes mit extremer kultureller Vielfalt erstrebt. Dadurch erscheinen die Grenzen zwischen den Mentalitäten sehr verschwommen, gehen durch Familien, ja sogar durch einzelne Individuen.«
In einer schummrigen Bar in der Nähe des Hauptmarktes, in der es auch belgisches Grimbergen-Bier vom Fass gibt, treffe ich fünf Künstler. Deren jüngste Werke werden noch bis zum 27. März 2016 in der Ausstellung »Artists from Krakow: The Generation 1980-1990« des Museums für zeitgenössische Kunst (Mocak) gezeigt.
Die prägende Erfahrung dieser Generation bringt Mateusz Sczypiński (geb. 1984) auf den Punkt: »Wir alle sind Kinder des Turbo-Kapitalismus der 90er.« Lediglich ihre Herkunft aus zumeist einfachen Familien – Mateusz stammt aus einer Bergarbeiterfamilie, der Vater seines Namensvetters Mateusz Hajdo war Bauarbeiter – verweist noch auf das Polen der Volksrepublik.
Offenbar war die Zäsur von 1989 hier noch radikaler als beispielsweise in der DDR: Ein Land am Rande des Bürgerkriegs und mit gewaltigen Versorgungsengpässen wurde plötzlich zum Tummelplatz für westliche Investoren und neoliberale Wirtschaftsreformer.
Marta Antoniaks Arbeiten zeugen vom Konsumismus der 90er: Hunderte geschmolzene Plastikspielzeugfiguren, kleine Weihnachtsmänner, Tiere, Märchenfiguren sind als klumpige und bunte Masse auf einem Teppich aneinander gekettet. Sie nennt das Objekt »Kinder Surprise« – es handelt sich um Figuren aus Überraschungseiern. Martas Arbeiten scheinen anzukommen und wurden gerade erst in einer Galerie in Berlin Mitte ausgestellt. Als Doktorandin an der Kunstakademie ist sie – ähnlich wie Kornel Janczy – nicht auf Verkäufe ihrer Werke angewiesen.
Völlig unbedarft gegenüber den Gesetzen des Kunstmarktes gibt sich Mateusz Hajdo: »Ich mache etwas für mich, eine Art Spielzeug. Indem ich es ausstelle, erschaffe ich eine bizarre Situation zwischen privat und öffentlich«. Hajdo ist der Bastler der Runde, der kleine Maschinen mit Motor baut. Der Fuß einer weiblichen Schaufensterpuppe, der auf Knopfdruck erotisch zu kreisen beginnt, wirft die Frage auf: »Wer ist hier Fetischist, wer der Voyeur?«
Einen ähnlichen Eindruck erwecken Łukasz Stokłosas düstere Parks und leere Villen mit überdimensionierten Kronleuchtern. Er will damit »dem Betrachter einen Blick auf Räume ermöglichen, die ihm normalerweise verschlossen bleiben«. Die Schwarz-Weiß-Ästhetik englischer Gruselfilme trifft auf die Märchenwelten Ludwigs II. von Bayern, dem er eine eigene Arbeit widmete.
Die politische Situation beschreiben die Fünf unisono als »eine Mischung aus lächerlich und abscheulich«. Noch wirken sie wie gebannt, beteiligen sich nicht an Protesten. Doch schon macht das Gerücht die Runde, dass sich der neue Kulturminister demnächst sämtliche Theateraufführung zur Zensur vorlegen lassen wolle. Vielleicht beteiligen sich die Künstler dann an einem gellenden Pfeifkonzert wie für Premierin Beata Szydlo beim Abschluss der Handball-Europameisterschaft eben hier in Krakau.
Die Kommunikationsexpertin Diana spricht erst einmal nur von mieser PR der Regierung: »Die hält es nicht einmal für nötig, den Bürgern ihre abstrusen Maßnahmen wenigstens im Ansatz zu erklären.«