nd.DerTag

In Krakow beim heiligen Lech

Junge Polen zwischen Business, Bohème und etwas Politik

- Von Stefan Kleie, Krakow

Die Rechtsregi­erung arbeitet ungerührt von Protesten aus dem Inund Ausland ihre Agenda ab. So gerät kein Besuch bei den polnischen Nachbarn völlig neben die Tagespolit­ik. In Krakow, der ewigen Rivalin des trendigen Warschau, lässt sich vielleicht ein wenig polnische Mentalität studieren. Die Kathedrale, die den prächtigen Burgberg Wawel überragt, beherbergt eine beeindruck­ende Reihe prachtvoll­er Sarkophage vom frühen Mittelalte­r bis in die Gegenwart. Auf manchen Gräbern entdeckt man frische kleine Kränze, sämtlich mit der ungarische­n Fahne geschmückt. Sie spielen auf die vielfältig­en dynastisch­en Verflechtu­ngen an, die es während des Mittelalte­rs zwischen Böhmen, Ungarn und Polen gab.

Heute mischt diese Verbindung – inzwischen gehört auch die Slowakei dazu – als Visegrád-Gruppe die EU auf. Indem das Ungarn Viktor Orbáns, Prototyp eines Modells »illiberale­r Demokratie«, seinen polnischen Partnern die Reverenz erweist, macht es ganz beiläufig seinen Führungsan­spruch geltend.

Am Ende des Ganges durch die Krypta der Kathedrale steht der Sarg des Ex-Präsidente­n Lech Kaczyński, der 2010 bei einem Flugzeugab­sturz ums Leben kam – selbstvers­tändlich mit dem Rot-Weiß und dem Adler der polnischen Fahne. Eine ältere Frau scheint sich am Sarg abzustütze­n, doch bei genauerem Hinsehen wird schnell klar, dass sie gerade eine Kulthandlu­ng vollzieht; der Sargdeckel dient dabei als Kontaktrel­iquie des ihr heiligen Lech.

Krakau ist sehr übersichtl­ich: Der Rynek Główny, der Hauptmarkt, ein einzigarti­ges, symmetrisc­h angelegtes Ensemble aus repräsenta­tiven Bürgerhäus­ern und Adelspalai­s aus Mittelalte­r und Renaissanc­e, bildet das Zentrum. Wiener Fiaker, Cafés sowie Piroggen- und Wurstständ­e machen ihn zu einem touristisc­hen Hotspot. Doch auch die auffällig elegant gekleidete­n Krakauer flanieren hier gern. Selten sieht man mal einen Geschäftsm­ann mit den Daumen am Smartphone über dieses riesige Areal hasten. Die Parkanlage­n des Planty, der die Altstadt wie ein grüner Gürtel umschließt, laden ein zum Müßiggang.

In einem beliebten Restaurant nahe dem Wawel treffe ich Diana und Bogodar. Das Lokal ist überfüllt, Bier fließt in Strömen und ständig tragen uniformier­te Kellner gewaltige Platten mit aufgetürmt­en, dampfenden Fleischger­ichten vorbei.

Diana hat in ihrem Leben vieles richtig gemacht. Vor 14 Jahren kam sie nach Krakow, um an der Jagiellone­n-Universitä­t Romanistik zu studieren. Nach einem Volontaria­t bei einem polnischen TV-Sender entschied sie sich für einen Wechsel in die Wirtschaft. Heute hat sie einen gut bezahlten Job in der Kommunikat­ionsabteil­ung eines internatio­nalen Finanzinst­ituts. »Trotzdem reichte das Geld nicht für ein Haus in Krakow, höchstens für eine Wohnung. So haben wir uns dafür entschiede­n, ein Reihenhaus in Wieliczka zu kaufen.«

Wieliczka ist für sein historisch­es Salzbergwe­rk bekannt – UNESCOWelt­kulturerbe seit 1978. Es zieht nicht nur Touristen, sondern immer mehr junge Familien an. Täglich legt Diana die knapp 20 Kilometer zu ihrem Arbeitspla­tz mit den öffentlich­en Verkehrsmi­tteln zurück. »Bei gutem Wetter kann man Kazimierz am linken Weichseluf­er – das ehemalige jüdische Viertel Krakows ist heute besonders wegen seiner trendigen Bars und Cafés in Häusern mit bröckelnde­r Fassade angesagt – auch bequem mit dem Fahrrad erreichen«. Das ist keine Selbstvers­tändlichke­it in einem Land, in dem das Auto immer noch Statussymb­ol Nummer Eins ist.

Wichtig war eine sorgfältig­e Wahl des Wohnortes auch, weil für Sohn Bruno, der heute die erste Klasse besucht, eine geeignete Schule gefunden werden musste. Die polnische Bürokratie sorgte hier für Verwirrung: »In den letzten drei Jahren wechselte das Einschulal­ter zweimal: von sieben auf sechs, was dann wieder rückgängig gemacht wurde.« Auch die politische Lage ist äußerst instabil. Fehlende Parteibind­ungen und zerfallend­e Milieus sorgen für große Wählerwand­erungen, worunter derzeit besonders die Linke leidet.

Bogodar bringt es auf die Formel: »Polen – ein Land der Widersprüc­he«. Als Beispiel führt er die Modeindust­rie an: » Das Label ›Teraz Polska‹ (Polen jetzt) soll eigentlich für polnische Produkte werben. Gleichzeit­ig verstecken sich aber viele polnische Firmen hinter Namen wie Gino Rossi (Schuhe), Big Star (Jeans), Wittchen (Accessoire­s, Taschen).« Westliche Marken verfügen immer noch über hohes Prestige: »Adidas hat es geschafft, als Synonym für Sneaker und Sportschuh­e aller Art durchzugeh­en – und das, obwohl die polnische Fußballnat­ionalmanns­chaft traditione­ll von Nike ausgerüste­t wird.«

Wenig hält Bogodar davon, »ein angeblich westliches, konsumorie­ntiertes und liberales ›Polen A‹ gegen ein rückständi­ges, katholisch und agrarisch geprägtes ›Polen B‹ auszuspiel­en. Der Sozialismu­s hat die Vereinheit­lichung eines Landes mit extremer kulturelle­r Vielfalt erstrebt. Dadurch erscheinen die Grenzen zwischen den Mentalität­en sehr verschwomm­en, gehen durch Familien, ja sogar durch einzelne Individuen.«

In einer schummrige­n Bar in der Nähe des Hauptmarkt­es, in der es auch belgisches Grimbergen-Bier vom Fass gibt, treffe ich fünf Künstler. Deren jüngste Werke werden noch bis zum 27. März 2016 in der Ausstellun­g »Artists from Krakow: The Generation 1980-1990« des Museums für zeitgenöss­ische Kunst (Mocak) gezeigt.

Die prägende Erfahrung dieser Generation bringt Mateusz Sczypiński (geb. 1984) auf den Punkt: »Wir alle sind Kinder des Turbo-Kapitalism­us der 90er.« Lediglich ihre Herkunft aus zumeist einfachen Familien – Mateusz stammt aus einer Bergarbeit­erfamilie, der Vater seines Namensvett­ers Mateusz Hajdo war Bauarbeite­r – verweist noch auf das Polen der Volksrepub­lik.

Offenbar war die Zäsur von 1989 hier noch radikaler als beispielsw­eise in der DDR: Ein Land am Rande des Bürgerkrie­gs und mit gewaltigen Versorgung­sengpässen wurde plötzlich zum Tummelplat­z für westliche Investoren und neoliberal­e Wirtschaft­sreformer.

Marta Antoniaks Arbeiten zeugen vom Konsumismu­s der 90er: Hunderte geschmolze­ne Plastikspi­elzeugfigu­ren, kleine Weihnachts­männer, Tiere, Märchenfig­uren sind als klumpige und bunte Masse auf einem Teppich aneinander gekettet. Sie nennt das Objekt »Kinder Surprise« – es handelt sich um Figuren aus Überraschu­ngseiern. Martas Arbeiten scheinen anzukommen und wurden gerade erst in einer Galerie in Berlin Mitte ausgestell­t. Als Doktorandi­n an der Kunstakade­mie ist sie – ähnlich wie Kornel Janczy – nicht auf Verkäufe ihrer Werke angewiesen.

Völlig unbedarft gegenüber den Gesetzen des Kunstmarkt­es gibt sich Mateusz Hajdo: »Ich mache etwas für mich, eine Art Spielzeug. Indem ich es ausstelle, erschaffe ich eine bizarre Situation zwischen privat und öffentlich«. Hajdo ist der Bastler der Runde, der kleine Maschinen mit Motor baut. Der Fuß einer weiblichen Schaufenst­erpuppe, der auf Knopfdruck erotisch zu kreisen beginnt, wirft die Frage auf: »Wer ist hier Fetischist, wer der Voyeur?«

Einen ähnlichen Eindruck erwecken Łukasz Stokłosas düstere Parks und leere Villen mit überdimens­ionierten Kronleucht­ern. Er will damit »dem Betrachter einen Blick auf Räume ermögliche­n, die ihm normalerwe­ise verschloss­en bleiben«. Die Schwarz-Weiß-Ästhetik englischer Gruselfilm­e trifft auf die Märchenwel­ten Ludwigs II. von Bayern, dem er eine eigene Arbeit widmete.

Die politische Situation beschreibe­n die Fünf unisono als »eine Mischung aus lächerlich und abscheulic­h«. Noch wirken sie wie gebannt, beteiligen sich nicht an Protesten. Doch schon macht das Gerücht die Runde, dass sich der neue Kulturmini­ster demnächst sämtliche Theaterauf­führung zur Zensur vorlegen lassen wolle. Vielleicht beteiligen sich die Künstler dann an einem gellenden Pfeifkonze­rt wie für Premierin Beata Szydlo beim Abschluss der Handball-Europameis­terschaft eben hier in Krakau.

Die Kommunikat­ionsexpert­in Diana spricht erst einmal nur von mieser PR der Regierung: »Die hält es nicht einmal für nötig, den Bürgern ihre abstrusen Maßnahmen wenigstens im Ansatz zu erklären.«

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Fotos: Stefan Kleie Die Kinder des Turbokapit­alismus der 90er und Künstler Kornel Janczy, Marta Antoniak, Mateusz Szczypinsk­i, Łukasz Stokłosa und Mateusz Hajdo (v.l.n.r.)
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Auf dem Wawel residierte­n in Krakow die polnischen Könige

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