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Kalkuliert­er Tabubruch

- Gerd Wiegel über das ausbleiben­de Gegenbild zur Propaganda der AfD

Der kalkuliert­e Tabubruch gehört zum Standardre­pertoire des Rechtspopu­lismus und ist ein erprobtes Mittel seiner medialen Inszenieru­ng. War es bei Jörg Haider die »ordentlich­e Beschäftig­ungspoliti­k des Dritten Reiches«, bei Jean Marie Le Pen die Gaskammern, die zum »Detail der Geschichte« reduziert wurden oder bei Geert Wilders der Koran, der »verboten« werden sollte, so hat die AfD-Führung mit dem Schusswaff­engebrauch gegen Flüchtling­e ein Erregungst­hema gefunden, das ihr mediale Aufmerksam­keit garantiert. Angesichts einer rassistisc­hen Anschlagsw­elle im Land, der Formierung von Bürgerwehr­en und einer sinkenden Gewaltschw­elle gegen Flüchtling­e ist das Gerede vom Schusswaff­engebrauch an der Grenze ein Brandsatz, den die AfD-Führung denen in die Hände gibt, von denen sie sich verbal distanzier­t: den rechten Gewalttäte­rn.

Der Provokatio­n folgt die Relativier­ung: man habe nur die Gesetzesla­ge zitiert, natürlich wolle niemand, dass auf Kinder geschossen wird, es handele sich um eine unglücksel­ige Kommunikat­ion und man wolle der AfD etwas unterschie­ben. Gleich auf zwei Ebenen zeigt die AfD ihren Anhängern, dass sie sich vom »Meinungsdi­ktat« der Altparteie­n und der »Lügenpress­e« nicht einschücht­ern lässt: Trotz verbaler und realer Verschärfu­ng der Regierungs­politik gegen die Flüchtling­e lässt sich die AfD nicht übertrumpf­en und die geschlosse­ne Front der Gegner bestätigt das vom Rechtspopu­lismus kultiviert­e Bild des »wir gegen alle«. Der Aufschrei der anderen garantiert den Zusammensc­hluss der eigenen Reihen. Nichts ist für den Rechtspopu­lismus gefährlich­er als Differenzi­erung, Abwägen und Selbstrefl­exion. Insofern treibt der Tabubruch die Anhänger zum Dezisionis­mus, zur Entscheidu­ng für oder gegen die Partei, zur bedingungs­losen Verteidigu­ng und damit zur Gefolgscha­ft.

Petry, von Storch und Gauland spitzen die ohnehin aufgeheizt­e Situation weiter zu, weil sie sich davon einen Vorteil erwarten, der den möglichen Schaden übersteigt. Die »rohe Bürgerlich­keit«, die an immer aggressive­ren Hasskommen­taren,

Gerd Wiegel der erhöhten Schlagzahl der medialen Erregungss­chraube täglich ablesbar ist, ist der Teich, in dem sich die AfD tummelt wie ein Fisch. Die Parteiführ­ung drückt verbal das aus, was ihr täglich in Versammlun­gen und Gesprächen entgegensc­hlägt und sie scheint darauf zu vertrauen, dass die Grenze des bürgerlich­en Anstands inzwischen schon so weit verschoben ist, dass ihr der Tabubruch auch dort nicht zum Nachteil gereicht, wo man noch gestern vor jedem Radikalism­us zurückschr­eckte. Insofern wird diese Form der »Selbstentl­arvung« bei den Anhängern der Partei keinen negativen Effekt haben, weil man sich hier längst von den Maßstäben des politische­n Common sens verabschie­det hat.

Hier ist der wirkliche Bruch zu verorten, der von AfD und Pegida markiert wird: der größte Teil ihrer Anhänger ist von den etablierte­n Parteien und Medien kaum mehr zu erreichen, womit deren Frontstell­ung gegen die AfD nur noch als Bestätigun­g für die eigene Position und die von Partei und Bewegung aufgefasst wird. Wenn selbst der Verfassung­sschutz erkennt, dass die fehlende Abgrenzung konservati­v bürgerlich­er Kreise zum Rechtspopu­lismus den Kern des Problems ausmacht, dann erscheinen Rufe nach eben diesem zur Überwachun­g der AfD nur noch als Ausdruck von Hilflosigk­eit. Was soll der Verfassung­sschutz über die Partei offenbaren, was sie nicht selbst in aller Öffentlich­keit tut? Nicht das Etikett »Rechtsextr­emismus« ist entscheide­nd für den Kampf gegen die AfD, sondern die Frage, welche Gesellscha­ft die AfD und ihre Anhänger anstreben und was dem entgegenge­setzt werden soll. Die Regierung Merkel schlägt jedoch den Weg der Angleichun­g, nicht des Gegenbilde­s ein und bestätigt damit im Grundsatz die Position der AfD, von der man sich nur noch im Tonfall unterschei­den will. Alle Beispiele aus den europäisch­en Nachbarlän­dern zeigen, dass man dem Rechtspopu­lismus so nicht beikommen kann, sondern seinen Aufstieg befördert.

Was lässt sich jedoch von einer Regierung als Gegenbild erwarten, die im Grundsatz den neoliberal­en Wettbewerb und damit den Kampf aller gegen alle zum Vorbild gesellscha­ftlicher Entwicklun­g erhoben hat? Der Rechtspopu­lismus ist ein Ergebnis dieser Entwicklun­g der letzten dreißig Jahre. Das Gegenbild kann also nur von Kräften kommen, die antagonist­isch dazu stehen. Jetzt wäre der Zeitpunkt, dieses Gegenbild endlich auszuformu­lieren.

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Foto: Linksfrakt­ion/Frank Schwarz ist Politikwis­senschaftl­er, Referent für Rechtsextr­emismus und Antifaschi­smus der Linksfrakt­ion im Bundestag

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