Ohne Eltern nach Europa
Immer mehr minderjährige Flüchtlinge begeben sich allein auf die Flucht
Mehr als 10 000 unbegleitete Flüchtlinge sollen im Schengenraum verschwunden sein. Für die Bundesrepublik gibt es keine Zahlen. Nur Planungen, die Betreuungsstandards abzusenken. Sie kommen aus Syrien, Irak, Eritrea oder Nordafrika: Immer häufiger erreichen unbegleitete Flüchtlingskinder den Schengenraum. Bei vielen von ihnen verliert sich nach der Einreise jede Spur. Wie die EU-Polizeibehörde Europol am Wochenende meldete, sollen in den letzten 24 Monaten mindestens 10 000 alleinreisende Kinder verschwunden sein. »Dies bedeutet nicht, dass allen etwas passiert ist«, betonte ein Europol-Sprecher. So könnte ein Teil der Kinder mittlerweile bei Verwandten gelandet sein. »Aber es bedeutet, dass diese Kinder zumindest potenziell gefährdet sind.« Die Gefährdungslage variiert zudem von Land zu Land. Die meisten der in Italien vermissten Kinder stammen aus Eritrea, Somalia und Syrien, erklärte Viviana Valastro von der Hilfs- organisation »Save the Children« der Nachrichtenagentur dpa. »Sie sagen uns schon bei ihrer Ankunft in Süditalien, dass sie da nicht bleiben wollen, sondern andere Länder als Ziel haben.«
Im vergangenen Jahr hatte »Save the Children« einen Bericht mit dem Titel »Kleine unsichtbare Sklaven« veröffentlicht. Denn nicht allen gelingt die Einwanderung in ein anderes Land, viele bleiben in den Fängen der Schlepper. Vor allem Mädchen aus Nigeria würden in Italien gezwungen, sich zu prostituieren. Andere Kinder, oft aus Ägypten, würden auf Märkten und in Autowaschanlagen Roms ausgenutzt und verrichten schwerste Arbeiten für einen Hungerlohn.
Der schwedische Ombudsmann für Kinder, Frederik Malmberg, warnte kürzlich: Viele dieser Kinder seien gefährdet, in die Hände von Kriminellen zu geraten. Tatsächlich gibt es in Stockholm schon mehrere hundert Straßenkinder, die sich mit Diebstählen und anderen Gaunereien über Wasser halten bzw. von kriminellen Banden ausgenutzt werden.
Die Bundesregierung will keine Hinweise darauf haben, dass auch in Deutschland Flüchtlingskinder verschwunden sein könnten. Was nichts heißt. Wie die Sprecher von Familienund Innenministerium am Montag einräumten, sei die Dimension des Themas unklar. Ein Indiz dafür sind Ein Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebundes die Zahlen. Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) bezifferte die Anzahl dieser Flüchtlinge jüngst auf bundesweit etwa 59 000. Der Bundesfachverband für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) zählte bis Ende Januar deutschlandweit bereits 60 000.
Der Städte- und Gemeindebund (DStGB) fordert nun eine Absenkung der Betreuungsstandards bei Flüchtlingskindern. Wie die »Welt« am Dienstag berichtete, arbeiten die Kommunalverbände derzeit an einem eigenen Leistungsrecht für die Betroffenengruppe. Ein Sprecher des Verbandes bestätigte gegenüber »neues deutschland«, dass es entsprechende Planungen gebe. »Allerdings sind wir in einem frühen Stadium«. Es gehe auch nicht darum, Standards abzusenken, sondern sie an die Bedürfnisse der Jugendlichen anzupassen. Noch werden unbegleitete Flüchtlinge wie Kinder behandelt, die wegen Kindeswohlgefährdung aus ihren Familien genommen werden müssen. »Dabei gibt es bei den Flüchtlingskindern andere Prioritäten, wie etwa den Spracherwerb oder die Integration«, so der Sprecher weiter. Die intensive Betreuung hat ihren Preis: bis zu 60 000 Euro pro Kopf und Jahr. Die Anpassung der Standards sei zwar nicht als Kostensenkung geplant, unterstrich der Sprecher, doch »wenn sich Ersparnisse ergeben, umso besser«.
Der stellvertretende Vorsitzende der Unions-Bundestagsfraktion, Michael Kretschmer (CDU), forderte in der »Welt« vom Dienstag, die Familien der unbegleiteten Flüchtlingskinder müssten die Betreuungskosten ersetzen, »wenn sie ein Kind nach Deutschland schicken«. Dieses Geschäftsmodell auch noch damit zu belohnen, dass die Familie nachziehen darf, sei der falsche Weg, so Kretschmer.
Doch die Realität in Deutschland sieht anders aus. »Unsere aktuellen Zahlen zeigen, dass faktisch kaum Eltern nach Deutschland kommen«, sagte Niels Espenhorst vom BumF am Dienstag dem »nd«. »Von Januar bis Dezember 2015 zogen lediglich 442 Eltern zu ihren minderjährigen Kindern nach«. Es sei ohnehin »wahnsinnig schwierig« für die Kinder ihre Eltern nachzuholen. »Gerade bei syrischen Flüchtlingen gibt es den Wunsch, endlich wieder mit der Familie zusammenzukommen«. Das gehe so weit, erläuterte Espenhorst, »dass die Kinder zurück in die Türkei wollen, wo ihre Eltern in Lagern leben«.
Die Anpassung der Standards sei zwar nicht als Kostensenkung geplant, doch »wenn sich Ersparnisse ergeben, umso besser«.