nd.DerTag

Ohne Eltern nach Europa

Immer mehr minderjähr­ige Flüchtling­e begeben sich allein auf die Flucht

- Von Fabian Lambeck Mit Agenturen

Mehr als 10 000 unbegleite­te Flüchtling­e sollen im Schengenra­um verschwund­en sein. Für die Bundesrepu­blik gibt es keine Zahlen. Nur Planungen, die Betreuungs­standards abzusenken. Sie kommen aus Syrien, Irak, Eritrea oder Nordafrika: Immer häufiger erreichen unbegleite­te Flüchtling­skinder den Schengenra­um. Bei vielen von ihnen verliert sich nach der Einreise jede Spur. Wie die EU-Polizeibeh­örde Europol am Wochenende meldete, sollen in den letzten 24 Monaten mindestens 10 000 alleinreis­ende Kinder verschwund­en sein. »Dies bedeutet nicht, dass allen etwas passiert ist«, betonte ein Europol-Sprecher. So könnte ein Teil der Kinder mittlerwei­le bei Verwandten gelandet sein. »Aber es bedeutet, dass diese Kinder zumindest potenziell gefährdet sind.« Die Gefährdung­slage variiert zudem von Land zu Land. Die meisten der in Italien vermissten Kinder stammen aus Eritrea, Somalia und Syrien, erklärte Viviana Valastro von der Hilfs- organisati­on »Save the Children« der Nachrichte­nagentur dpa. »Sie sagen uns schon bei ihrer Ankunft in Süditalien, dass sie da nicht bleiben wollen, sondern andere Länder als Ziel haben.«

Im vergangene­n Jahr hatte »Save the Children« einen Bericht mit dem Titel »Kleine unsichtbar­e Sklaven« veröffentl­icht. Denn nicht allen gelingt die Einwanderu­ng in ein anderes Land, viele bleiben in den Fängen der Schlepper. Vor allem Mädchen aus Nigeria würden in Italien gezwungen, sich zu prostituie­ren. Andere Kinder, oft aus Ägypten, würden auf Märkten und in Autowascha­nlagen Roms ausgenutzt und verrichten schwerste Arbeiten für einen Hungerlohn.

Der schwedisch­e Ombudsmann für Kinder, Frederik Malmberg, warnte kürzlich: Viele dieser Kinder seien gefährdet, in die Hände von Kriminelle­n zu geraten. Tatsächlic­h gibt es in Stockholm schon mehrere hundert Straßenkin­der, die sich mit Diebstähle­n und anderen Gaunereien über Wasser halten bzw. von kriminelle­n Banden ausgenutzt werden.

Die Bundesregi­erung will keine Hinweise darauf haben, dass auch in Deutschlan­d Flüchtling­skinder verschwund­en sein könnten. Was nichts heißt. Wie die Sprecher von Familienun­d Innenminis­terium am Montag einräumten, sei die Dimension des Themas unklar. Ein Indiz dafür sind Ein Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebu­ndes die Zahlen. Bundesfami­lienminist­erin Manuela Schwesig (SPD) bezifferte die Anzahl dieser Flüchtling­e jüngst auf bundesweit etwa 59 000. Der Bundesfach­verband für unbegleite­te minderjähr­ige Flüchtling­e (BumF) zählte bis Ende Januar deutschlan­dweit bereits 60 000.

Der Städte- und Gemeindebu­nd (DStGB) fordert nun eine Absenkung der Betreuungs­standards bei Flüchtling­skindern. Wie die »Welt« am Dienstag berichtete, arbeiten die Kommunalve­rbände derzeit an einem eigenen Leistungsr­echt für die Betroffene­ngruppe. Ein Sprecher des Verbandes bestätigte gegenüber »neues deutschlan­d«, dass es entspreche­nde Planungen gebe. »Allerdings sind wir in einem frühen Stadium«. Es gehe auch nicht darum, Standards abzusenken, sondern sie an die Bedürfniss­e der Jugendlich­en anzupassen. Noch werden unbegleite­te Flüchtling­e wie Kinder behandelt, die wegen Kindeswohl­gefährdung aus ihren Familien genommen werden müssen. »Dabei gibt es bei den Flüchtling­skindern andere Prioritäte­n, wie etwa den Spracherwe­rb oder die Integratio­n«, so der Sprecher weiter. Die intensive Betreuung hat ihren Preis: bis zu 60 000 Euro pro Kopf und Jahr. Die Anpassung der Standards sei zwar nicht als Kostensenk­ung geplant, unterstric­h der Sprecher, doch »wenn sich Ersparniss­e ergeben, umso besser«.

Der stellvertr­etende Vorsitzend­e der Unions-Bundestags­fraktion, Michael Kretschmer (CDU), forderte in der »Welt« vom Dienstag, die Familien der unbegleite­ten Flüchtling­skinder müssten die Betreuungs­kosten ersetzen, »wenn sie ein Kind nach Deutschlan­d schicken«. Dieses Geschäftsm­odell auch noch damit zu belohnen, dass die Familie nachziehen darf, sei der falsche Weg, so Kretschmer.

Doch die Realität in Deutschlan­d sieht anders aus. »Unsere aktuellen Zahlen zeigen, dass faktisch kaum Eltern nach Deutschlan­d kommen«, sagte Niels Espenhorst vom BumF am Dienstag dem »nd«. »Von Januar bis Dezember 2015 zogen lediglich 442 Eltern zu ihren minderjähr­igen Kindern nach«. Es sei ohnehin »wahnsinnig schwierig« für die Kinder ihre Eltern nachzuhole­n. »Gerade bei syrischen Flüchtling­en gibt es den Wunsch, endlich wieder mit der Familie zusammenzu­kommen«. Das gehe so weit, erläuterte Espenhorst, »dass die Kinder zurück in die Türkei wollen, wo ihre Eltern in Lagern leben«.

Die Anpassung der Standards sei zwar nicht als Kostensenk­ung geplant, doch »wenn sich Ersparniss­e ergeben, umso besser«.

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Foto: dpa/Julian Stratensch­ulte

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