Das eingefrorene Bild
»Die Palästinenserin« von Joshua Sobol am Theater der Altmark Stendal
Wahrheit macht keinen Spaß: Sie hält nicht still. Sie ist kein Zustand, sondern Bewegung. Jede Wahrheit produziert genau das, was ihr widerspricht. Das gilt für Links und Rechts, Oben und Unten, Gut und Böse, Glanz und Elend. Wer das eine behauptet, hat dem jeweils anderen schon zugearbeitet. Wo jemand zupackenden Aufstand träumt, wird im Gegenzug – glücklicherweise! – der Wunsch nach Abstand größer. So, wie es keine Freiheit gibt, sondern nur Freiheiten, so gibt es keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten. Welch ein Tummelplatz der Möglichkeiten – sich ausdauernd zu irren.
»Ist in deinem Leben wirklich so viel Wahrheit? Oder ist dein Leben wie unser aller Leben ein Ozean von trivialen Augenblicken, in denen du über dieses und jenes schwätzt und tausend sinnlose Dinge tust?« Havkin, der alternde Schauspieler im hellen Leinenanzug und mit Sommerhut, luftig, leicht, als begänne das Verwitternde noch einmal zu tanzen – Havkin stellt diese Frage ins Publikum, mit wässrigen, aber leuchtenden Augen, komödiantenpathetisch die Arme erhoben, das Gesicht ins Scheinwerferlicht gereckt. Hannes Liebmann spielt diesen heiter-melancholischen Beschwörungsclown, dem Anfang und Ende des Abends gehören, als einen wunderlichen, verschrobenen, auf der Ahnenlinie Pucks und Ariels herumtänzelnden Animator einer unbekümmerten Fantasie: Missachte beim Urteilen die Einseitigkeit; scheu dich nicht, im Blick auf die Dinge verwirrt zu sein; lass dich von anderen Erfahrungen unsicher machen.
Wie? Unbekümmerte Fantasie? Nicht gerade ein Schlüsselwort für »Die Palästinenserin« von Joshua Sobol, aufgeführt am Theater der Altmark Stendal, Regie: Yaron Goldstein, Ausstattung: Sofia Mazzoni. Der israelische Autor, weltberühmt geworden durch das Stück »Ghetto«, hatte »Die Palästinenserin« 1985 geschrieben, die Uraufführung in Haifa steigerte sich zum Skandal – allein schon, weil dieses Wort »Palästinenserin« auf Plakaten prangte. Ein Tabubruch. Regisseur Goldstein, Israeli mit deutschem Pass, sah die Aufführung damals; in einem Gespräch unmittelbar vor der Stendaler Premiere (auch Sobol selbst war anwesend) erinnerte er sich an Tumulte, Boykott, heftigen Streit in der Öffentlichkeit.
Eine Filmcrew dreht die Geschichte der arabischen Israelin Samira, die bei einer studentischen Protestaktion gegen jüdische Nationalisten niedergeschlagen wurde. Einer der Schläger, David, entschuldigt sich. Liebe. Schwangerschaft. Erneuter Überfall durch jüdische Extremisten. Das Kind stirbt im Mutterleib, David ersticht den Fanatiker, muss ins Gefängnis. Die Geschichte von einer grausamen Liebe zur Feindschaft – und einer hoffenden Liebe zum Feind. Wahre Liebe als Feindestötung: Sie vernichtet auch den Feind in dir selbst.
Der Drehstab besteht aus jüdischen und arabischen Israelis, der Stoff bohrt sich ins Leben der Beteiligten, er sprengt die Vorgaben des Drehbuchs, löst Nervosität und unkontrollierte Reaktionen aus. Das Publikum sitzt auf der Hinterbühne, davor: ein Filmset mit Kamera, verschiebbaren Kulissen (Wohnungen, Straßenecke in Jerusalem). Der übliche Trubel, die routinierte Aufgekratztheit von Mittelpunktsmenschen des Filmgewerbes. Wir schauen dem Dreh zu – und sehen die Bilder des Films auf einer Leinwand. Fortwährender Wahrnehmungswechsel zwischen Szenerie und Szenen.
Und: Die Spieltruppe in ständiger Konfrontation mit dem Anderssein. Die jüdische Israelin etwa gibt vor der Kamera die Palästinenserin; die arabische Schauspielerin ist die Mutter Davids, des Rechtsnationalen, der sich »falsch« verliebt. Und der jüdische Filmregisseur, der zu Affären neigt, spielt zugleich einen britischen Drehbuchautor, den gleiche Neigungen heimsuchen. Hin und her, drunter und drüber. Spiel als Flucht aus der Wirk- lichkeit und als Ankunft in der anderen Chance – die befreien oder quälen kann. Wer hat das Recht auf welche Geschichte? Was wird bleiben von dem, was doch jeder anders sieht?
Ein zweistündiger Abend beeindruckender Schauspieler. EinstiegsAusstiegs-Virtuosen. Eitelkeits-Skizzen, Erschütterungsmomente, Überforderungskapriolen. Man dreht auf, man sinkt erschöpft nieder. Das hat Tempo, wirkt gelungen gezirkelt zwischen Dreh und Pausen, zwischen gespielter und wirklicher Erregung. Und den Verwischungen. Andreas Müller als Regisseur: ein Schlaks der kühlen Übersicht, den Schübe unwillkommenen Gefühls treffen. Angelika Hofstetter spielt eine Jüdin – in der Rolle der Palästinenserin: stark der abgewürgte, beherrschte Druck des Vorurteils, dann das platzende Ventil, der Zusammenbruch im ehrlichen Geständnis innerer Abwehr. Anna Hopperdietz ist jene authentische Palästinenserin, nach deren Geschichte das Drehbuch geschrieben wurde, eine junge verschlossene, in Stiefelstrenge gefasste kleine Frau, eine Kommentatorin der Story, die sich im Strudel der politischen Debatten und privaten Hysterien mehr und mehr als erneutes Opfer fühlt. Michael Magel und Jochen Gehle – Kameramann und Assistent, im Film der jüdische Nationalist, der arabische Junge: Momentaufnahmen kraftvoller Selbstbehauptung, die unter militanten Zwängen und radikalen Verführungen aber brüchig und also höchst gefährlich wird.
Der israelisch-arabische Konflikt, bekanntlich hineingestellt in weltweite Interessen, die sich seiner bedienen – hier offenbart er sich hochverdichtet als Motor persönlichster Spannungen. Regisseur Goldstein bleibt im jüdisch-palästinensischen Brodel, führt aber auf sehr sanfte Weise auch hinaus: Die Inszenierung ist ein theatralischer Blick auf das grundsätzliche Nicht-heil-werden-Können der Welt. Bis der alte Tänzer Herbert wie ein zwinkernder Schamane seine Hände hebt, als wolle er uns den Himmel einflüstern und damit – gegen alle Realität – bekräftigen: Wäre doch schön, in die Luft zu fliegen, und zwar so ganz anders, als es sich inzwischen grausam, ja: eingebürgert hat.
Der Schluss: Hinter Herbert gefriert das Bild der weiter streitenden Film-Truppe ein, irgendwo zwischen einem Krieg, aus dem man nicht herauskommt, und einem Frieden, den man dennoch sucht. Wie wir alle an unseren eigenen Orten. Wir Trägen und wir Drängenden. Die wir täglich mit Kompromissen den edleren Menschen in uns beschädigen müssen. Der gut sein möchte und gerecht. Der die Welt nicht aushält – aber der verfluchterweise ebenfalls nicht auszuhalten ist, wenn er dauernd nur der Wissendste, Gerechteste, Bewussteste, Kämpferischste sein will. Beeindruckendes Stendal! Unmittelbar übrigens, nachdem das Haus unter Intendant Alexander Netschajew einen der Theaterpreise des Bundes (80 000 Euro) »für kleine und mittlere Bühnen« erhalten hatte.
In ständiger Konfrontation mit dem Anderssein.
Nächste Vorstellungen: 21., 23. Februar