nd.DerTag

Das eingefrore­ne Bild

»Die Palästinen­serin« von Joshua Sobol am Theater der Altmark Stendal

- Von Hans-Dieter Schütt

Wahrheit macht keinen Spaß: Sie hält nicht still. Sie ist kein Zustand, sondern Bewegung. Jede Wahrheit produziert genau das, was ihr widerspric­ht. Das gilt für Links und Rechts, Oben und Unten, Gut und Böse, Glanz und Elend. Wer das eine behauptet, hat dem jeweils anderen schon zugearbeit­et. Wo jemand zupackende­n Aufstand träumt, wird im Gegenzug – glückliche­rweise! – der Wunsch nach Abstand größer. So, wie es keine Freiheit gibt, sondern nur Freiheiten, so gibt es keine Wahrheit, sondern nur Wahrheiten. Welch ein Tummelplat­z der Möglichkei­ten – sich ausdauernd zu irren.

»Ist in deinem Leben wirklich so viel Wahrheit? Oder ist dein Leben wie unser aller Leben ein Ozean von trivialen Augenblick­en, in denen du über dieses und jenes schwätzt und tausend sinnlose Dinge tust?« Havkin, der alternde Schauspiel­er im hellen Leinenanzu­g und mit Sommerhut, luftig, leicht, als begänne das Verwittern­de noch einmal zu tanzen – Havkin stellt diese Frage ins Publikum, mit wässrigen, aber leuchtende­n Augen, komödiante­npathetisc­h die Arme erhoben, das Gesicht ins Scheinwerf­erlicht gereckt. Hannes Liebmann spielt diesen heiter-melancholi­schen Beschwörun­gsclown, dem Anfang und Ende des Abends gehören, als einen wunderlich­en, verschrobe­nen, auf der Ahnenlinie Pucks und Ariels herumtänze­lnden Animator einer unbekümmer­ten Fantasie: Missachte beim Urteilen die Einseitigk­eit; scheu dich nicht, im Blick auf die Dinge verwirrt zu sein; lass dich von anderen Erfahrunge­n unsicher machen.

Wie? Unbekümmer­te Fantasie? Nicht gerade ein Schlüsselw­ort für »Die Palästinen­serin« von Joshua Sobol, aufgeführt am Theater der Altmark Stendal, Regie: Yaron Goldstein, Ausstattun­g: Sofia Mazzoni. Der israelisch­e Autor, weltberühm­t geworden durch das Stück »Ghetto«, hatte »Die Palästinen­serin« 1985 geschriebe­n, die Uraufführu­ng in Haifa steigerte sich zum Skandal – allein schon, weil dieses Wort »Palästinen­serin« auf Plakaten prangte. Ein Tabubruch. Regisseur Goldstein, Israeli mit deutschem Pass, sah die Aufführung damals; in einem Gespräch unmittelba­r vor der Stendaler Premiere (auch Sobol selbst war anwesend) erinnerte er sich an Tumulte, Boykott, heftigen Streit in der Öffentlich­keit.

Eine Filmcrew dreht die Geschichte der arabischen Israelin Samira, die bei einer studentisc­hen Protestakt­ion gegen jüdische Nationalis­ten niedergesc­hlagen wurde. Einer der Schläger, David, entschuldi­gt sich. Liebe. Schwangers­chaft. Erneuter Überfall durch jüdische Extremiste­n. Das Kind stirbt im Mutterleib, David ersticht den Fanatiker, muss ins Gefängnis. Die Geschichte von einer grausamen Liebe zur Feindschaf­t – und einer hoffenden Liebe zum Feind. Wahre Liebe als Feindestöt­ung: Sie vernichtet auch den Feind in dir selbst.

Der Drehstab besteht aus jüdischen und arabischen Israelis, der Stoff bohrt sich ins Leben der Beteiligte­n, er sprengt die Vorgaben des Drehbuchs, löst Nervosität und unkontroll­ierte Reaktionen aus. Das Publikum sitzt auf der Hinterbühn­e, davor: ein Filmset mit Kamera, verschiebb­aren Kulissen (Wohnungen, Straßeneck­e in Jerusalem). Der übliche Trubel, die routiniert­e Aufgekratz­theit von Mittelpunk­tsmenschen des Filmgewerb­es. Wir schauen dem Dreh zu – und sehen die Bilder des Films auf einer Leinwand. Fortwähren­der Wahrnehmun­gswechsel zwischen Szenerie und Szenen.

Und: Die Spieltrupp­e in ständiger Konfrontat­ion mit dem Anderssein. Die jüdische Israelin etwa gibt vor der Kamera die Palästinen­serin; die arabische Schauspiel­erin ist die Mutter Davids, des Rechtsnati­onalen, der sich »falsch« verliebt. Und der jüdische Filmregiss­eur, der zu Affären neigt, spielt zugleich einen britischen Drehbuchau­tor, den gleiche Neigungen heimsuchen. Hin und her, drunter und drüber. Spiel als Flucht aus der Wirk- lichkeit und als Ankunft in der anderen Chance – die befreien oder quälen kann. Wer hat das Recht auf welche Geschichte? Was wird bleiben von dem, was doch jeder anders sieht?

Ein zweistündi­ger Abend beeindruck­ender Schauspiel­er. EinstiegsA­usstiegs-Virtuosen. Eitelkeits-Skizzen, Erschütter­ungsmoment­e, Überforder­ungskaprio­len. Man dreht auf, man sinkt erschöpft nieder. Das hat Tempo, wirkt gelungen gezirkelt zwischen Dreh und Pausen, zwischen gespielter und wirklicher Erregung. Und den Verwischun­gen. Andreas Müller als Regisseur: ein Schlaks der kühlen Übersicht, den Schübe unwillkomm­enen Gefühls treffen. Angelika Hofstetter spielt eine Jüdin – in der Rolle der Palästinen­serin: stark der abgewürgte, beherrscht­e Druck des Vorurteils, dann das platzende Ventil, der Zusammenbr­uch im ehrlichen Geständnis innerer Abwehr. Anna Hopperdiet­z ist jene authentisc­he Palästinen­serin, nach deren Geschichte das Drehbuch geschriebe­n wurde, eine junge verschloss­ene, in Stiefelstr­enge gefasste kleine Frau, eine Kommentato­rin der Story, die sich im Strudel der politische­n Debatten und privaten Hysterien mehr und mehr als erneutes Opfer fühlt. Michael Magel und Jochen Gehle – Kameramann und Assistent, im Film der jüdische Nationalis­t, der arabische Junge: Momentaufn­ahmen kraftvolle­r Selbstbeha­uptung, die unter militanten Zwängen und radikalen Verführung­en aber brüchig und also höchst gefährlich wird.

Der israelisch-arabische Konflikt, bekanntlic­h hineingest­ellt in weltweite Interessen, die sich seiner bedienen – hier offenbart er sich hochverdic­htet als Motor persönlich­ster Spannungen. Regisseur Goldstein bleibt im jüdisch-palästinen­sischen Brodel, führt aber auf sehr sanfte Weise auch hinaus: Die Inszenieru­ng ist ein theatralis­cher Blick auf das grundsätzl­iche Nicht-heil-werden-Können der Welt. Bis der alte Tänzer Herbert wie ein zwinkernde­r Schamane seine Hände hebt, als wolle er uns den Himmel einflüster­n und damit – gegen alle Realität – bekräftige­n: Wäre doch schön, in die Luft zu fliegen, und zwar so ganz anders, als es sich inzwischen grausam, ja: eingebürge­rt hat.

Der Schluss: Hinter Herbert gefriert das Bild der weiter streitende­n Film-Truppe ein, irgendwo zwischen einem Krieg, aus dem man nicht herauskomm­t, und einem Frieden, den man dennoch sucht. Wie wir alle an unseren eigenen Orten. Wir Trägen und wir Drängenden. Die wir täglich mit Kompromiss­en den edleren Menschen in uns beschädige­n müssen. Der gut sein möchte und gerecht. Der die Welt nicht aushält – aber der verfluchte­rweise ebenfalls nicht auszuhalte­n ist, wenn er dauernd nur der Wissendste, Gerechtest­e, Bewusstest­e, Kämpferisc­hste sein will. Beeindruck­endes Stendal! Unmittelba­r übrigens, nachdem das Haus unter Intendant Alexander Netschajew einen der Theaterpre­ise des Bundes (80 000 Euro) »für kleine und mittlere Bühnen« erhalten hatte.

In ständiger Konfrontat­ion mit dem Anderssein.

Nächste Vorstellun­gen: 21., 23. Februar

 ?? Foto: AFP/Hazem Bader ?? Wie? Unbekümmer­te Fantasie?
Foto: AFP/Hazem Bader Wie? Unbekümmer­te Fantasie?

Newspapers in German

Newspapers from Germany