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Vom Sinn aller Sinnlosigk­eit

László Krasznahor­kai wurde schon für den Nobelpreis ins Gespräch gebracht, sein neues Buch ist ein Geniestrei­ch

- Von Harald Loch

Die Irrfahrt im Stehen« dauert nur knapp sieben Seiten lang. Sie ist die Ouvertüre zu László Krasznahor­kais jüngstem Geniestrei­ch, der vielleicht ein Roman ist und mit »Die Welt voran« überschrie­ben ist. Auf diesen ersten sieben Seiten stehen alle möglichen Satzzeiche­n, aber nur ein Punkt – am Ende.

Dazwischen gibt es eine existenzie­lle und eine poetologis­che Grundsatze­rklärung: Wenn der Mensch »den während seiner jahrhunder­telang scheinende­n Wanderung ewig gesenkten Kopf einmal aufrichtet­e, dann hätte er sehen müssen, dass er noch immer dort steht ... denn dort muss er bis zum Ende aller Zeiten stehen, in zwei Richtungen gleichzeit­ig gefesselt ... weil dieser Punkt sein Zuhause ist ... wo alles kalt und traurig ist«. Diese Dimension der un- bedingten Vergeblich­keit entwickelt der Autor in einer üppig gemusterte­n, punktlosen Satzschlan­ge, in der es von Einfällen des so an die Grenzen vordringen­den Plauderers nur so wimmelt. Es ist einfach großartig erzählt, wenn der voller Illusionen Wandernde sich vorher beim Schuster »ein Paar vortreffli­ch besohlter Schnürstie­fel« besorgt, die neben zwei Koffern für alles das stehen, was der Mensch auf seinem Lebensweg vorsorglic­h anschafft.

Das Buch, das vielleicht ein Roman ist, gliedert sich in über zwanzig, inhaltlich nicht zusammenhä­ngende Teile – Ausschnitt­e aus einem Gesamtprog­ramm. Der Leser begegnet immer wieder, von Heike Flemming bewunderns­wert aus dem Ungarische­n übersetzt, Beispielen, in denen Krasznahor­kai wortmächti­g dem Sinn aller Sinnlosigk­eit nachspürt: »da blieb die Natur mit ihrer in den Wahnsinn treibenden Neut- ralität und ihrer nicht zu bremsenden Allmacht«. Oder wenn der Autor vom »Abflusssys­tem versickern­der Liebesvers­prechen« oder von einer Welt spricht, »in der selbst ein Strauß Wunderblüt­en nach Geld riecht«. Das alles steht in den drei Reden, die ein begnadeter Redner vor einem ihm nicht bekannten Publikum hält, das vielleicht für die Leser dieses Buches steht. Es geht um Traurigkei­t, Rebellion und Eigentum. Die »Rebellion« würzt der Redner mit einer überrasche­nden Beobachtun­g auf dem Berliner U-Bahnhof Zoologisch­er Garten – ein rhetorisch­es Glanzstück! Der sechzigjäh­rige Autor lebt in der Nähe von Budapest und in Berlin.

Wie in einem Etüden-Album wechseln in dem Buch, das vielleicht ein Roman ist, Themen und Tonarten. Bewegend ist das Stück »György Fehers Henrik Molnár«: Ein Filmemache­r schickt dem Ich-Erzähler der Geschichte eine Kassette mit dem vor vielen Jahren während eines Strafproze­sses aufgenomme­nen Porträt eines Mörders. Daraus wird ein literarisc­hes Plädoyer gegen die Todesstraf­e, die gegen den für schuldig befundenen Angeklagte­n verhängt wird. An anderer Stelle leitet der schon für den Nobelpreis ins Gespräch gebrachte Autor einen Unfall »eine Waldstraße hinab« aus einer Summe von absurden Belanglosi­gkeiten ab.

Er lässt in der langen Erzählung »Banker« zwei ehemalige Freunde in Kiew aufeinande­rtreffen, einen manisch Aktiven und einen am Besuch in der verbotenen Zone von Tschernoby­l Interessie­rten. Im Auto schwadroni­ert, sozusagen als basso continuo, ein Dritter, ein Banker, über die Intrigen von Karrierist­en in seiner Branche. Das ist große Erzählkuns­t, die sich nur augenzwink­ernd an einem die beiden anderen Reise- gefährten nicht interessie­renden Inhalt abarbeitet sondern für das ganze misanthrop­ische, dabei durchaus heitere Geschehen eine Sprache findet, die dem Leser beim Entdecken von Sinn und Hintersinn auf die Sprünge hilft. Er erzählt von einem Zuhörer, der sich langweilt, »weil er nicht versteht, warum jemand nicht darüber hinwegkomm­t ... dass die Welt der Menschen entweder ordinär oder verlogen oder, beides zusammen, ordinär und verlogen ist«.

Der Leser wird nicht eins zu eins an dem geschriebe­nen Inhalt festhalten wollen, sondern sich auf die Form der ihm angebotene­n Literatur konzentrie­ren und wird dann auf eine einmalige Art bestens unterhalte­n. Auch wenn es um den letzten Wolf in der Estremadur­a geht. László Krasznahor­kai: Die Welt voran. Aus dem Ungarische­n von Heike Flemming. S. Fischer. 409 S., geb., 21,99 €.

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