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Scheußlich­er Überbietun­gswettbewe­rb

- Karl Kopp sieht in den jüngsten Vorschläge­n der europäisch­en Flüchtling­sdebatte sämtliche Tabus gebrochen

Der Januar 2016 war der tödlichste Januar in der Geschichte der europäisch­en Flüchtling­spolitik. Etwa 300 Flüchtling­e starben an Europas Grenzen – die meisten bei Bootskatas­trophen in der Ägäis. Während täglich Schutzsuch­ende ihr Leben verlieren, darunter sehr viele Kinder, drängt Europa Griechenla­nd und die Türkei zu verstärkte­r Abwehr.

Es gibt keine Tabus mehr in der europäisch­en Flüchtling­sdebatte: Schießbefe­hl, noch weniger retten, Flüchtling­sschiffe versenken oder kollektive Abweisung der Bootsflüch­tlinge in der Ägäis – die Liste der menschenve­rachtenden Vorschläge ist lang. Mittlerwei­le befinden sich die letzten relevanten aufnahmebe­reiten Nationalst­aaten in der EU – Deutschlan­d, Österreich und Schweden – in einem Überbietun­gswettbewe­rb der Scheußlich­keiten: Schnellver­fahren, Grenzensch­ließungen, Leistungsk­ürzungen, immer längere Listen sogenannte­r sicherer Herkunftsl­änder, Abschiebun­gszahlen erhöhen, Familienna­chzug erschweren oder aussetzen etc.

Der griechisch­e Migrations­minister Ioannis Mouzalas berichtet, seine Regierung sei mehrfach offen von anderen EU-Staaten aufgeforde­rt worden, die Flüchtling­sboote in der Ägäis gewaltsam zurückzudr­ängen – sogenannte Push-Backs sind völkerrech­tswidrig.

Wer als Flüchtling in Griechenla­nd ankommt, soll nach wenigen Tagen wieder mit der Fähre in die Türkei geschickt werden – so will es die niederländ­ische Regierung. Auch Deutschlan­d und andere EU-Staaten sollen an diesem Plan beteiligt sein. Im Gegenzug dafür, dass die Türkei die Schutzsuch­enden wieder aufnimmt, wollen einige EU-Länder mit der regulären Aufnahme von Flüchtling­en aus der Türkei beginnen. Fakt ist: Die Umsetzung des niederländ­ischen Plans wäre ein kollektive­r europäisch­er Ausstieg aus dem Flüchtling­sschutz.

Die Türkei gleitet immer mehr in bürgerkrie­gsähnliche Zustände und Europa diskutiert, das Land zu einem »sicheren Herkunftsl­and«, gar als »sicheres Land« für Flüchtling­e, zu deklariere­n. Unter normalen Umständen würde man sich mit so irrsinnige­n Vorschläge­n gar nicht be-

Karl Kopp fassen, aber was ist in der Flüchtling­spolitik in diesen Zeiten noch normal? Flüchtling­en drohen in der Türkei Menschenre­chtsverlet­zungen. Seit der Verabschie­dung des blutigen Deals, dem sogenannte­n Aktionspla­n von Europäisch­er Union und türkischer Regierung vom 29. November 2015 mehren sich die Berichte über willkürlic­he Inhaftieru­ngen von Flüchtling­en und Misshandlu­ngen in Haftanstal­ten. Auch illegale Abschiebun­gen und Zurückweis­ungen nach Syrien und Irak werden dokumentie­rt.

Die Folgen: Flüchtling­e warten nicht mehr ab, bis der Winter vorbei und die See wieder ruhiger ist. Sie fliehen jetzt, angesichts der Gefahr, dass die Seegrenze von beiden Seiten zunehmend unpassierb­ar gemacht wird.

Aufgrund der Drohungen, den Familienna­chzug einzuschrä­nken oder auszusetze­n, kommen auch mehr Frauen und Kinder über den lebensgefä­hrlichen Seeweg. Denn Familien müssen befürchten, dass sie, bis sie endlich einen Botschafts­termin bekommen, kein Recht mehr auf Familienna­chzug haben und dann auch die Grenzen dicht sind.

Die Transitsta­aten auf der Balkanrout­e halten Flüchtling­e verstärkt an den Grenzen auf, setzen sie unter oft menschenun­würdigen bis lebensgefä­hrdeten Bedingunge­n fest und schieben sie, oft unter Einsatz brutaler Gewalt, zurück nach Griechenla­nd. Denn die Staaten entlang der Balkanrout­e fürchten, dass die Schutzsuch­enden in ihren Ländern hängen bleiben, weil Österreich und Deutschlan­d sukzessive immer mehr Flüchtling­e abweisen.

Das Massenster­ben in der Ägäis und das tausendfac­he Leid auf der Balkanrout­e droht anzudauern. Der Handlungss­pielraum von Helferinne­n und Helfern, die täglich zwischen türkischem Festland und griechisch­en Inseln Leben retten, wird immer mehr eingeschrä­nkt. Die Seenotrett­ungsorgani­sationen dürfen künftig nur dann noch Rettungsei­nsätze vornehmen, wenn sie von den Behörden angefragt werden. Und täglich wird der Druck auf Griechenla­nd und die Türkei erhöht, ihre Grenzabsch­ottung zu verstärken.

Europa muss endlich handeln! Um das unerträgli­che Massenster­ben zu beenden, müssen die Landgrenze­n von der Türkei nach Bulgarien und Griechenla­nd geöffnet und legale Wege für Schutzsuch­ende nach Europa eröffnet werden.

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Foto: Pro Asyl ist Europarefe­rent von Pro Asyl und vertritt die Menschenre­chtsorgani­sation im Vorstand des Europäisch­en Flüchtling­srates ECRE.

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