Im Dickicht der Angst: Knack!
Unheimlich - gut! »Diese Geschichte von Ihnen« von John Hopkins am Akademietheater Wien
Ein Rückenwirbel knackt. So, als sei jemand auf einen dürren Zweig getreten. Ein helles, beinahe zartes Knacken. Sergeant Johnson trat auf einen Menschen, nicht auf einen dürren Zweig. Tief in einem Wald. Wo es unheimlich finstert.
Die Damen und Herren des Einlassdienstes hatten gleich zu Beginn des Abends, für ein paar Momente, mit kleinen schwarzen Kästchen die Notlichtanzeigen über den TheaterTüren abgedeckt: totales Dunkel. Es ist der wahre Ort dieser Aufführung, auch wenn es dann hell wird, ob nun im Wohnzimmer des ersten Aktes, im Polizeibüro des zweiten oder im Verhörraum des dritten.
Sergeant Johnson im tiefen Dickicht seiner Ängste. Seine Seelenzustände sind lauter Krüppelkiefern, die seinen Innenraum zerkratzen; sein Leben, das ist ihm ein Hetzen zwischen schweren Ästen aus Jämmerlichkeit und Selbstekel, die ihn erschlagen wollen. Wo sie das doch gar nicht können: An diesem Fettansätzigen gibt es nichts zu erschlagen, der ist ein Nichts, eine Null, der kommt auf keinen grünen Zweig, und das weiß er, und deshalb tritt er zu. Knack. Kein dürrer Zweig. Ein Rückenwirbel. Der gehört einem Mann namens Baxter, den er verhört hat. Wahrscheinlich ein Kinderschänder. Eine Sau. Verhör? Beim Wort Verhör denkt man, man habe sich verhört. Johnson verhörte nur kurz. Dann schlug er zu. Schlug tot. Knack. Das singt dir nach.
Die Seelenschwarzhellseherin Andrea Breth inszenierte am Wiener Akademietheater »Diese Geschichte von Ihnen« von John Hopkins, ein Stück von 1968 (der Brite schrieb auch das Drehbuch zum James-BondFilm »Feuerball«). Drei Akte also: Johnson kommt nach dem Tottrampeln nach Hause zu seiner Frau (Heimkehr ist, seit Odysseus, das größte Graus); dann wird er von einem Vorgesetzten zum Verbrechen an Baxter vernommen; den Schluss bildet die Rückblende, Johnsons »Gespräch«, der Zweikampf mit dem vermeintlichen Kinderschänder. Drei Stunden Psycho. Ein Theatergipfel! Whiskygläser tun es Stühlen nach – sie können fliegen; der Schweißfilm, der die Gesichter überzieht, erzählt den puren Horror; und wenn die Worte stocken, hilft Blut weiter – es fließt. Ein heftig schmerzender Paarbetrieb herrscht, etwa zwischen einem Kopf und einer Tischplatte, einer brennenden Zigarette und einer Handfläche. Schrei über Schrei. Johnson drückt, weil es um die Wahrheit geht, kein Auge zu – aber den Hals seines Gegners. Der Gegner heißt Baxter. Und Maureen. Johnsons Frau. Der endlich mal gesagt werden muss, dass sie nie schön war. Zuhause macht’s zwar nicht: knack!, aber zack! Immer hinein in die Fresse!
»Diese Geschichte von Ihnen«, so sagt Johnson zu Baxter und zweifelt an diesem Schwein, der ein Mensch ist. Andrea Breth inszenierte den Finger, der ins Publikum weist: diese Geschichte von uns. Jetzt heben natürlich alle die Hände: Was denn, was habe ich mit der Perversität eines Schänders und der Schlag-Seite eines polizeilichen Kleinhirns zu tun! Nichts. Alles. Denn die Selbstwertgefühle spielen überall verrückt.
Der Berliner Lageso-Helfer, der einen toten Syrer erfindet – diese Lust an der Hysterie. Der Linke, der einen »rechten« Überfall auf sich simuliert – diese Gier nach der falschen Anschuldigung. Jeder Vermummte, der den fliegenden Pflasterstein angötzt – diese Freude am Hass. Das Bundestags-Babyface, das kleine nackte Jungs mag – diese Not der Triebe. Der deutsche Hausmeister, in dem das Virus des Blockwarts überdauerte – diese Sucht nach Gewissenhaftigkeit. Der schlappe Familienvater mit Puff-Potenz – dieser Drang zum Januskopf. Oder alle, die in eine Uniformhose fahren, weil sie nicht länger nur in ihrer Haut stecken wollen – dieser Orgasmus der Selbstermächtigung. Rundum: Geschichten vom giftigen Menschen hinter lauter Gütigkeitsund Gütlichkeitsmasken.
Nicholas Ofczarek: als Johnson: atemberaubend! Bullig, klobig, bauchig. Der Scheitel auf dem Pomadenkopf geht schneisengerade auf den Ordnungsstrich. Wird aber verwüstet werden wie das Hemd, wie der ganze schmutzige, schnapsige, schnöselschnauzige Kerl, der die zitternde Hand nach vorn streckt, als habe er einen Colt gezückt. Fahrig, fies, dann plötzlich schluchzend - und immer wieder dieses verschleimte Schniefen; ein Batzen Verfehlung. Ein kleines Arschloch dieser Welt – sämtliche nur mögliche Neurotik geklumpt zu einer einzigen schäbigen, schauerlich erbärmlichen Figur. Der seit zwanzig Jahren im HierarchieSchlamm ganz unten klebt. Der von schrecklichen Opferbildern gepeinigt wird, ein Gefühlskrüppel, der sich zum Herauspeitscher der Wahrheit berufen fühlt. Ofczarek brilliert mit einer terroristischen Ordnungswucht, die ganz aus gereizten Weichteilen kommt. Der Wanst eine Schlachtordnung: jeder Arm ein Spähtrupp, jedes Bein eine Hundertschaft, jeder Gang ein Panzerangriff, jedes Lächeln eine rammende Infanterie, jeder Blick ein Erschießungskommando. Aber doch so machtlos! Schreckliche Waffenballung aus Verklemmung und Anmaßung.
Martin Zehetgruber entwarf auf folienbedecktem Boden drei Bühnenbilder. Wie Breitwand. Da ist zunächst die heimische Schrankwand mit einer Unmenge von »Porzellantussies«, Seriengeschenke von Johnsons Schwiegermutter. Als helfe Vollstopfen gegen die Leere. Dann, im zweiten Akt, ein weißer aseptischer Besprechungsraum; und schließlich ein Verhörzimmer im Umbau – im Hintergrund schimmert Johnsons heimische Schrankwand durch die Plane. Unwelten. Leerstellen, in denen jeder Volltreffer gegen einen Menschen doppelt zählt.
In jedem der drei Akte muss sich Johnson auf einen anderen Gegner einstellen. Im nächtlichen Suff-Taumel daheim ist es seine Frau, mit Lockenwicklern. Andrea Clausen wie eine längst Verwehte, kalt noch in ihren Angeboten, zu trösten, zu helfen; ein Wesen, traurig eingefroren in erregungslosen Mechaniken des Überlebens. Roland Koch ist im zweiten Akt der verhörende Officer: ein Zigarillo dauerrauchender Stilist des Abgebrühten; eine Bürokratie-Bestie; ein pappesattes Desinteresse, in Fragen verpackt; pieksender, dann peitschender Machtvollzug.
August Diehl, im dritten Akt, ist Baxter, im zerrissenen blauen Anzug, voller belastender Dreckflecken aus jenem Park, wo das Verbrechen an einem Mädchen geschah: der feingliedrige Verweigerer, er nervt Johnson mit intellektuellem Anschein. Zunächst ist da eine knochige maulmalmende Verstocktheit, dann: der schreiende Schmerz des Misshandelten – aber mitten in dieser Folter erwacht plötzlich ein höhnisches Selbstbewusstsein, das den Spieß umkehrt, und nun, feixend unter Wundenstöhnen, bohrt und zündelt und ätzt. Baxter in den Höllentiefen des Polizisten. Es ist Baxters Todesurteil. Grandios, wie sich Ofczarek und Diehl umlauern, wie sie sich ineinander verbeißen – als wollten sie nicht Menschen spielen, sondern, ja was? Vielleicht das Undenkbarste: explosionsgeile Asteroiden, die in einem sternlosen Universum brüllend ineinander rasen. Gegen das Gefährlichste, was Natur aufzubieten hat: dass Weidwundheit nachlässt. Also: neu zuschlagen, immer wieder, immer tiefer.
Für die Dialoge verwandelte sich Andrea Breths virtuose, verflucht gute Spielerschaft in eine schleifsteinglühende Werkstatt für Schlachtmesser. Jedes Gespräch ist Feindberührung. Manchmal ist dies alles sogar zum Lachen. Wer als Schauspieler in diesem Theater in die tiefen kalten Wasser einer Seele springt, dem spritzen unwillkürlich ein paar böse Zynismustropfen aus den Klamotten.
War Baxter die Schänder-Sau? Oder eher nicht? Völlig egal. Es geht um eine andere Wahrheit. Der Wiener Kriminalpsychologe Thomas Müller sieht – im Programmhaft – auch im Zivilen grundsätzlich das, was auf der internationalen Bühne seit Generationen die Friedhöfe füllt: In jeder Kleinigkeit unseres Alltags lauert der Keim der Katastrophe. Dieser Keim wächst. Und plötzlich dann, wie im Politischen: »Die Sprache ver- schwindet, die Diplomatie verstummt, der Krieg erwacht.« Hinterm Fenster nebenan: Du hörst die Schreie nicht. Im Lächeln neben dir: Du ahnst den Denunzianten nicht. Im Parteibüro nebenan: Du ahnst den Putschisten nicht. Bewegung tut gut? Sagt der Amokläufer und macht sich auf den Weg, der hoffentlich nicht zufällig auch deiner ist.
Wie lange muss was reiben, bis auch dir die Nerven blank liegen? Keiner sieht, was sich über uns zusammenbraut. Aber immer mal wieder, irgendwo, und manchmal sehr nah: Da gibt es einen Johnson, der immerhin hat sie gesehen und ertragen müssen, die Bilder der Babyleichen, die ganze Scheiße des Realen, und dann gibt es einen Tritt und einen nächsten Absturz auf der Rückgratwanderung durchs moderne Leben. Hörst du’s? Knack.
Geschichten vom giftigen Menschen hinter lauter Gütigkeits- und Gütlichkeitsmasken
Nächste Vorstellungen am 7. und 11. Februar