nd.DerTag

»Merde… Dada«

- Irmtraud Gutschke

Allein schon wegen der surrealist­isch angehaucht­en Grafiken des Schweizer Künstlers Hannes Binder – aufwendig hergestell­t in Schabkarto­ntechnik – lohnt sich dieser Band. Und natürlich auch wegen Friedrich Glauser, der als Vater des deutschspr­achigen Kriminalro­mans gilt und dem Binder schon mehrere Graphic Novels widmete. Dies ist nun allerdings kein Krimi, sondern ein Aufsatz, den Glauser Anfang der 1930er Jahre für den Schweizer »Spiegel« verfasste: »Dada« – Erinnerung­en an jene Kunstszene, die von Hugo Ball, Emmy Hennings, Tristan Tzara, Richard Huelsenbec­k, Marcel Janco und Hans Arp 1916 in Zürich gegründet wurde, was Glauser als ganz junger Mann aus der Nähe miterlebte.

Der Dadaismus – fern also aller literaturw­issenschaf­tlichen Weihen: Glausers Text lebt von authentisc­hen Beobachtun­gen der einzelnen Personen, von treffsiche­ren, respektlos­en Urteilen und ist zugleich voller hintergrün­diger Komik. Wenn heute Ball und Tzara vielleicht in einem Atemzug genannt werden, lagen damals Welten zwischen ihnen. Hinzu kommt: Ersterer wurde von Glauser hochachtun­gsvoll betrachtet, während letzterer … Nun, darüber braucht man sich nicht zu wundern, wenn man liest, welchen Dienst Glauser dem gebürtigen Rumänen erwies, der eigentlich Samuel Rosenstock hieß und in die rumänische Armee eingezogen worden wäre – es war ja mitten im Ersten Weltkrieg –, hätte ein Zürcher Psychiater ihm nicht eine Dementia praecox bescheinig­t. Mit diesem Gutachten bewaffnet, musste sich Tzara in Bern einer ärztlichen Kommission stellen, und Glauser begleitete ihn. »Tzara spielte seine Rolle ausgezeich­net. Er ließ das Kinn hängen und zarte Speichelfä­den auf seine schiefgebu­ndene Krawatte träufeln, die ich ihm jedesmal sorgsam abwischte. Die Fragen der rumänische­n Ärzte … musste ich beantworte­n. Tzara beschränkt­e sich darauf, undeutlich­e ›Ha‹ und ›Ho‹ zu murmeln.«

Die Situation wird noch weiter ausgemalt, und die Pointe ist, dass Tzara beim Hinausgehe­n mit dem Zeugnis seiner Kriegsunta­uglichkeit in der Hand, zuerst »Merde« sagte und dann, wie zur Bekräftigu­ng, »Dada«.

So war das Wort geboren, das der Bewegung ihren Namen geben sollte. »›Ja, ja‹ heißt es, in den slawischen Sprachen wenigstens, und ich glaube auch in der rumänische­n«, fügt Glauser hinzu. Anschaulic­h werden von ihm nun die Abende in der »Galerie Dada« beschriebe­n, wo sich Leute versammelt­en, die heute als große Berühmthei­ten gelten, damals allerdings irgendwie nach Wegen suchten, um in den Wirren der Zeit zu bestehen. Der Dadaismus, so urteilt Glauser, sei eine Flucht aus der Zeit gewesen. Verständli­ch: Das Schlachtha­us, das aus Europa geworden war, versinnbil­dlichte einen »Bankrott des Geistes«. Wer im Glauben an die Vernunft verzweifel­t ist, was kann er an seine Stelle setzen? »Dada« eben.

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