Rentner und Ruhrpott rutschen ab
Wohlfahrtsverbände fordern Umsteuern bei Steuer- und Sozialpolitik
Im Jahr 2014 waren in Deutschland 15,4 Prozent der Bevölkerung relativ mittellos. Besonders davon betroffen waren Erwerbslose, Alleinerziehende, kinderreiche Familien sowie Rentner. Rund eine Millionen Senioren, so schätzt Wolfram Friedersdorff, müssen mit weniger als den Leistungen für die Altersgrundsicherung zurechtkommen. Sie scheuten den Weg zum Amt, erklärt der Präsident der Volkssolidarität, weil die Differenz der Grundsicherung zu ihrem Einkommen nur sehr gering sei oder eben auch aus Scham. »Wir erleben, dass immer mehr Ältere sich bei den ›Tafeln‹ mit Lebensmitteln versorgen müssen«, so Friedersdorff.
Denn im Jahr 2014 lag der Anteil der mittellosen Rentner mit 15,6 Prozent erstmals oberhalb der gesamtgesellschaftlichen Armutsquote, wie aus dem am Dienstag veröffentlichten »Armutsbericht 2016« des Paritätischen Gesamtverbandes hervorgeht. »Was wir heute in der Statistik sehen, sind die Vorboten einer Lawine der Altersarmut«, warnt dessen Hauptgeschäftsführer, Ulrich Schneider. So ist die Armut unter Rentnern seit 2005 zehnmal so stark gewachsen wie beim Rest der Bevölkerung, weil zunehmend Menschen mit gebrochenen Erwerbsverläufen in das Rentenalter kommen sowie das Rentenniveau systematisch abgesenkt wurde.
Dabei konnte Schneider mit seinen Kollegen von diversen anderen Verbänden wie der Volkssolidarität oder Pro Asyl zunächst Positives vermelden: 2014 ist die Armutsquote gegenüber dem Vorjahreswert um 0,1 Prozent auf 15,4 Prozent der Bevölkerung beziehungsweise 12,5 Millionen Menschen gesunken. Der bundesweite Aufwärtstrend seit dem Jahre 2006 sei damit erst einmal gestoppt, so Schneider. Gleich in 14 der 16 Bundesländer nahm die Mittellosigkeit der Bevölkerung ab – mit minus 2,3 beziehungsweise 1,4 Prozent besonders stark in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Jedoch ist die Armut in den beiden Bundesländer im Vergleich zu den anderen Bundesländern auch relativ hoch.
Und für Entwarnung ist es laut Schneider noch zu früh: »Ob der Negativtrend damit beendet ist, ob er in eine Seitenbewegung einmündet oder ob es sogar der Beginn einer Trendwende ist, werden die nächsten Jahre zeigen.« Schließlich hat sich trotz der guten Wirtschaftslage und politischer Versprechen bei den besonders gefährdeten Gruppen so gut wie nichts getan. Weiterhin gelten 58 Prozent aller Erwerbslosen als arm. Bei den Alleinerziehenden sind es 42, bei den kinderreichen Familien 25, bei Ausländern 33 und bei schlecht qualifizierten Menschen 31 Prozent.
Zudem ist ausgerechnet im reichen Bundesland Bayern die Armut angestiegen. Besonders schlimm traf es jedoch Nordrhein-Westfalen. Dort nahm die Mittellosigkeit unter der Bevölke- rung seit 2006 von 13,9 auf zuletzt 17,5 Prozent zu. Der Grund hierfür ist die tiefe Strukturkrise, die das Ruhrgebiet seit Jahrzehnten durchmacht. »Erstmalig hat es seit 2014 mit seinen über fünf Millionen Einwohnern die 20-Prozent-Marke erreicht«, so Schneider. Mehr als ein Viertel aller Kinder lebt dort von Hartz IV.
Die eine Million vergangenes Jahr hier angekommenen Flüchtlinge haben noch keinen Einfluss auf die Armutsquote, weil sie meist in Erstaufnahme- oder Gemeinschaftsunterkünften leben. Zudem machen sie nur knapp über ein Prozent der Bevölkerung aus. »Das Horrorszenario, wonach ausgerechnet die Flüchtlinge unseren Sozialstaat überstrapazieren, hat keine empirische Grundlage, sondern ist in erster Linie Stimmungsmache«, so Schneider. Die Probleme auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und auch die Frage inklusiver Bildung, vor denen man stehe, seien nicht mit den Flüchtlingen gekommen, sondern seien das Ergebnis jahrelanger politischer Versäumnisse, unter denen Deutsche vorher und Flüchtlinge jetzt auch leiden müssten.
Dem Paritätischen zufolge ist der Bund für diese hausgemachten Probleme »hauptverantwortlich«. So setze Armutsbekämpfung höhere Staatsausgaben voraus und heiße immer auch Umverteilung. »Doch werden wir solange scheitern müssen, solange Bundesregierungen wie die jetzige oder ihre Vorgängerregierung die Erhöhung von Steuern und Abgaben zum Tabu erklären«, so Schneider.
»Das Horrorszenario, wonach ausgerechnet die Flüchtlinge unseren Sozialstaat überstrapazieren, hat keine empirische Grundlage, sondern ist in erster Linie Stimmungsmache.«
Ulrich Schneider, Paritätischer