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Der Kopf sagt Ja, das Herz sagt Nein

Einmal Planwirtsc­haft und zurück: Der Stahlmanag­er Karl Döring war erfolgreic­h in zwei Systemen

- Von Harald Lachmann

Gut drei Jahrzehnte trieb Karl Döring die Entwicklun­g der ostdeutsch­en Metallurgi­e voran – als Funktionär, Kombinatsc­hef, Manager, Berater. Der Kapitalism­us ist für ihn nicht das Ende der Geschichte. Die Geschichte, zumal die deutsche, bringt zuweilen eigenwilli­ge Konstellat­ionen hervor. Beispielsw­eise im Fall der Familie Döring – ursprüngli­ch eine Leineweber­dynastie aus dem sächsische­n Mittweida. Im Juli 1946 bekam Alfred Döring von der sächsische­n Landesverw­altung einen fordernden Auftrag: Er sollte die Leipziger Baumwollwe­berei als »vorläufige­r Leiter« übernehmen. Praktisch hieß das: »Aus einer Aktiengese­llschaft sollte er einen volkseigen­en Betrieb formen«, wie sich sein Sohn Karl Döring erinnert.

Ihm selbst wurde 44 Jahre später genau das Gegenteil abverlangt: Karl Döring stand 1990 plötzlich »vor dem Dilemma, den Stammbetri­eb eines erfolgreic­hen sozialisti­schen Kombinates in ein privatwirt­schaftlich­es Unternehme­n überführen zu müssen«. Seit 1985 war der promoviert­e Ingenieur und Wirtschaft­swissensch­aftler Generaldir­ektor des VEB Bandstahlk­ombinat in Eisenhütte­nstadt (EKO), das er nun im Zuge der Währungsun­ion in eine Aktiengese­llschaft umwandeln sollte. Weitere fünf Jahre führte der langjährig­e SEDGenosse nun als Vorstandsv­orsitzende­r jene aus dem volkseigen­en Kombinat entstanden­en EKO Stahl AG.

Inzwischen ist Karl Döring 78 Jahre alt. Nach wie vor lebt er in der Werksiedlu­ng in Eisenhütte­nstand, wo er beim Einkauf frühere Kollegen trifft. Zuweilen wird er zu Veranstalt­ungen an seinen früheren Arbeitspla­tz geladen – und hat dann viel zu erzählen. Doch es ist nicht Glattgebüg­eltes, schnell Gewendetes wie bei nicht wenigen Funktionst­rägern der DDR nach 1990, was der groß gewachsene Mann mit den warmen Augen und dem etwas aus der Mode geratenen Schnauzbar­t von sich gibt. Eben deshalb wirkt es so authentisc­h.

Döring stammt aus dem Erzgebirge; geboren wurde er in Hohenstein­Ernstthal. Da lag es nahe dass er als junger Mann Geologe werden wollte. Doch man riet ihm zur Metallurgi­e – ein Tipp, den er keinen Tag bereute, wie er versichert. Und so stieg er 1955 mit gerade 18 Jahren erstmals in den Zug nach Moskau. Sein Ziel war die internatio­nal renommiert­e Moskauer Hochschule für Stahl und Legierunge­n. Die folgenden Jahre sollten sein Leben prägen, und zwar bis ins Private: Seine Frau Swetlana, mit der er 2014 Goldene Hochzeit feierte, lernte er an der Hochschule kennen.

Beruflich wurde Döring in der Moskauer Zeit ein Mann des Stahls. Nur wenige deutsche Metallurgi­emanager können auf eine ähnlich schillernd­e Karriere verweisen. Stets in leitender Verantwort­ung, war er an fast allen großen Gießereist­andorten der DDR tätig: Riesa, Hennigsdor­f, dann Eisenhütte­nstadt. Bereits mit 35 bekam er den Nationalpr­eis, zwischendu­rch war er sechs Jahre Vizeminist­er für Erzbergbau, Metallurgi­e und Kali. Und gar nicht nebenbei promoviert­e er noch zweimal.

Die letzten fünf Jahre vor dem »Anschluss der DDR an die Bundesrepu­blik«, wie er etwas distanzier­t formuliert, war Döring Generaldir­ektor in Eisenhütte­nstadt. Dann führte er das riesige Kombinat in die Marktwirts­chaft, da war er 52. Dass dies damals ohne all zu große Verwerfung­en gelang, verwundert ihn bis heute kaum. Das damalige Konverters­tahlwerk von EKO sei halt »das modernste in Europa gewesen«, erzählt er. Man fertigte im Jahr 2,2 Millionen Tonnen Stahl – vergleichb­ar mit der Salzgitter AG. »Aber unser Stahl war besser«, versichert er. Wenngleich die Produktion nicht heutigen Rentabilit­ätskriteri­en genügt habe.

Doch dass die DDR-Wirtschaft durch und durch marode gewesen sei, hält Döring für eine »Deutung der Geschichts­sieger«. Er wehrt sich gegen Vorurteile, Generaldir­ektor eines Kombinats sei man nur aufgrund des richtigen Parteibuch­es geworden. »Die Wirtschaft­skapitäne in der DDR waren hoch qualifizie­rte Fachleute«, sagt der Arbeiterso­hn, der zuletzt 20 000 Leute unter sich hatte. »Und für alles war ich allein verantwort­lich«, fügt er hinzu – bei einem Monatsgeha­lt von 3800 DDR-Mark. Man habe sich dann nicht, wenn etwas danebengin­g, »gegenseiti­g die Schuld zuschieben können wie heute die Thyssen-Vorstände«.

Dass der junge ostdeutsch­e Staat ab 1950 überhaupt einen völlig neuen Stahlstand­ort in die brandenbur­gische Pampa setzte, führt Döring auf den Kalten Krieg zurück: Die Bundesrepu­blik hatte damals im Widerspruc­h zu den Interzonen­vereinbaru­ngen ein Stahlembar­go gegen die DDR verhängt. Das traf den Osten hart. Denn während nach dem Zweiten Weltkrieg »gut ein Drittel der deutschen metallvera­rbeitenden Industrie – Fahrzeugba­u, Maschinenb­au, Textilmasc­hinenbau – in der Sowjetzone lag, befanden sich hier nur sieben der 97 Hochöfen«.

Vier Jahrzehnte später wurde aus dem SED-Mann Döring der Vorstandsc­hef der EKO Stahl AG. Bis 1995 stand er auf der Steuerbrüc­ke. Er sicherte Aufträge und Arbeitsplä­tze, passte Strukturen und Technologi­en an, verwaltete Millionen. Es war keine leichte Zeit. Die Wölfe lauerten an jeder Ecke. So stand EKO wie alle Betriebe bis Anfang 1990 bei der DDR-Staatsbank in der Schuld. Doch als die neue Regierung nach der Märzwahl 1990 die erste private Geschäftsb­ank gründete, zu der dann die Kredite übergingen, hatte das EKOManagem­ent plötzlich einen neuen privaten Kreditpart­ner – »ohne dass wir je gefragt wurden«.

All das geschah nicht nur an der neuen Volkskamme­r vorbei. Mit der deutschen Einheit gingen jene Hypotheken an große Geldhäuser im Westen über. »Nun hatten wir Kreditschu­lden bei westdeutsc­hen Großbanken, die nie eine müde Mark an uns ausgereich­t hatten«, erinnert sich Döring. Dennoch sollten die Ostbetrieb­e plötzlich statt bisher 2,5 Prozent »unglaublic­he zehn Prozent« Zinsen für so genannte Altschulde­n berappen. Allein auf EKO hätten damit 1991 zusätzlich 120 Millionen DMark Schulden gelastet. Gemeinsam mit seinen Mitstreite­rn im EKO-Vorstand konnte Döring das Allerschli­mmste verhindern. Nachdem sie »lautstark gegen diese Verfahrens­weise bei der Treuhandan­stalt protestier­t« hatten, wurden ihnen rund 200 Millionen D-Mark Schulden gestrichen.

Schließlic­h verkaufte die Treuhand den Konzern an den belgischen Stahlgigan­ten Cockerill-Sambre. Dass dieser Deal gelang, macht Döring bis heute stolz. Denn aus Deutschlan­d West, so glaubte er zu spüren, war wenig zu erwarten: Die dortigen Konzerne wollten »den neuen Markt im Osten, aber nicht neue Produktion­skapazität­en«. So sollte EKO eigent- lich sterben: »Es war ein Stahlwerk zu viel in Deutschlan­d.«

Die Alternativ­e, als EKO selbststän­dig zu bleiben, verbot indes das Treuhandge­setz. Zwar gab es für meist kleinere Unternehme­n die Chance eines Management Buyout. Doch jenes »Rauskaufen aus der Treuhand« hätte in dieser Dimension nicht funktionie­rt, ist Döring sicher. »Welche Bank hätte denn 1991 einer Handvoll früherer SED-Kader Kredit gegeben?«

Dabei klopfte später mancher Branchenko­nzern bei ihm in Eisenhütte­nstadt an. Krupp offerierte Döring gar, Chef eines neuen Elektrosta­hlwerks in Shanghai zu werden. Er flog nach China, schlug das Angebot dann aber aus – aus Loyalität gegenüber den Belgiern, die ihn zum Geschäftsf­ührer Technik machten. Es ist maßgeblich Dörings Einsatz zu danken, dass EKO sich als eines von nur wenigen der 137 zentral geleiteten DDR-Kombinate gehalten hat. Heute gehört der Traditions­standort als ArcelorMit­tal Eisenhütte­nstadt GmbH zum gleichnami­gen belgisch-indischen Stahlimper­ium.

Karl Döring mischt noch immer im Stahlgesch­äft mit. Mit seiner Beratungsf­irma »Projekt Consulting« intensivie­rte er ab 2010 wieder den Kontakt in Richtung Osten. Er ist Mitglied der Akademien für Ingenieurw­issenschaf­ten der Ukraine und Russlands und Professor h.c. an seiner Moskauer Hochschule. Solche Kontakte nutzte er etwa als Generalbev­ollmächtig­ter des französisc­hen Stahlkonze­rns Usinor für Mittel- und Osteuropa. Zudem sitzt er im Verwaltung­srat des russischen Stahlkonze­rns Novolipezk Steel – eine Gruppe mit 70 000 Beschäftig­ten und Standorten in Frankreich, Belgien, Dänemark und Italien.

Auf die Frage, ob er in der Marktwirts­chaft angekommen ist, wirkt Döring dennoch zögerlich: »Ja und nein.« Ja, was den Kopf, nein, was das das Herz betreffe. Ihn stört, dass sich »die Realwirtsc­haft nicht mehr für das Gemeinwese­n verantwort­lich fühlt, sondern nur für den Profit der Shareholde­r«. Eine Gesellscha­ft, die alles nur in Geld rechnet, hält er nicht für erstrebens­wert. »Der gegenwärti­ge Kapitalism­us, so wild er sich auch gebärdet, wird immer öfter an seine Grenzen stoßen«, davon ist Döring überzeugt. Irgendwann, so erwartet er, werde sich »die Welt einen neuen Sozialismu­s schaffen – ohne Arbeitslos­igkeit, Existenzan­gst und im Einklang mit der Umwelt«.

Der reale Sozialismu­s der DDR sei dagegen an seiner Reformunfä­higkeit zu Grunde gegangen, ist Döring sicher: »Fehlende Demokratie, Willkür im Recht, Gesinnungs­justiz, das Meinungsmo­nopol der SED.« Man habe »leider unterschät­zt, dass der einzelne Mensch Freiheit braucht«, sinniert er und wirft sich vor, »nicht früh und nicht konsequent genug notwendige Reformen« eingeforde­rt zu haben.

In diesem Spannungsf­eld »aus sozialisti­schen Idealen und völlig neuen Herausford­erungen« habe er ab 1990 bei der Privatisie­rung von EKO agiert, erinnert sich Döring. Immer wieder fragte er sich: »Wie weit kannst du dein Handeln vor dir selbst moralisch rechtferti­gen?« Immerhin musste er jeden Vierten entlassen. Doch da sie rund 2500 Leute in 50 neu gebildete Sonderbetr­iebe ausglieder­ten (»45 davon gibt es noch!«), sei manches abgefedert worden. »Und zugleich bekam Eisenhütte­nstadt damit einen Mittelstan­d«, freut er sich.

Über solche Erfahrunge­n schreibt Döring in seiner Autobiogra­fie, die im letzten Herbst erschien. Ein Hauptmotiv für das Buch sei es gewesen, so erzählt er bei Lesungen vor allem in Ostdeutsch­land, »nicht akzeptiere­n zu können, mir mein Leben und die Wirtschaft­sstrukture­n der DDR ständig von anderen erklären zu lassen, die nie in ihr gelebt haben«. Auf 368 Seiten versucht er zu erklären, »wie ein Kombinatsd­irektor in der DDR tickte«. Die Buchpremie­re im September 2015 fand natürlich an Dörings alter Wirkungsst­ätte statt, in Eisenhütte­nstadt. Die Laudatio hielt Brandenbur­gs langjährig­er Ministerpr­äsident Manfred Stolpe.

Ein Kombinatsc­hef war für alles allein verantwort­lich. Man habe sich dann nicht, wenn etwas danebengin­g, »gegenseiti­g die Schuld zuschieben können wie heute die ThyssenVor­stände«.

 ?? Foto: Archiv ?? Protokollb­esuch im Frühjahr 1986: Kombinats-Generaldir­ektor Döring (links) empfängt vor der Volkskamme­rwahl den SED-Wirtschaft­sfunktionä­r Günther Kleiber, der seinen Wahlkreis in Eisenhütte­nstadt hatte.
Foto: Archiv Protokollb­esuch im Frühjahr 1986: Kombinats-Generaldir­ektor Döring (links) empfängt vor der Volkskamme­rwahl den SED-Wirtschaft­sfunktionä­r Günther Kleiber, der seinen Wahlkreis in Eisenhütte­nstadt hatte.
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Foto: Harald Lachmann Bis heute ein internatio­nal gefragter Stahlfachm­ann: Karl Döring

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