Die Burka schwarz-rot-gold
Lessing mit Muslimen: Volker Löschs »Nathan der Weise« in Bonn
Man geht einander kräftig an den Hals. Aggressiv geradezu. Nathan, Saladin, der Tempelherr. Zum Würgegriff der Satz: »Wir müssen Freunde sein!« Lachen im Publikum. Das kennt man. Frieden, die Luftnummer. Wort und Tat: die Kluftnummer. So, wie Lawrow und Kerry mitunter beim Handschlag aneinander vorbeischauen, zwei so wie alle Kriegsbetreiber, mit Friedenswatte zwischen den Zähnen – das Knirschen hört man trotzdem. Da war es wohltuender, weil ehrlicher, als Papst Franziskus und Patriarch Kyrill entwaffnend friedvoll miteinander redeten. Nach tausend Jahren Kirchenkrieg. Ein Zweierlächeln, als seien tausend Jahre nichts. Der Frieden und seine sehr eigene Zeitrechnung.
Auch die Geschichte von Nathan, dem Weisen, ist eine Ewigkeit her. Volker Lösch hat Lessings Stück an den Kammerspielen Bonn inszeniert, mit dabei, mit eigenen Texten: Muslime dieser Stadt nahe Köln – einer Salafistenhochburg mit neun Moscheen, der König Fahad Akademie und dem Ruf, in besonderem Maße Sammelstelle radikaler Islamisten zu sein. Burkadichte besonders in Bad Godesberg, dem Ort der Kammerspiele. Die zwölf jungen Muslima und Moslems der Inszenierung haben Wurzeln in Iran, Libanon, Marokko, Syrien und in der Türkei, aber alle besitzen einen deutschen Pass.
Lessing: ein Märchen. Von der Entdeckung, dass Feinde – eine Familie sind. Vom Verlust einer Geliebten und dem Wiedergewinnen eines Bruders. Und inmitten: Nathan, der Vater, der gar keiner ist und doch einer bleibt; der Jude, der die Gemüter erregt, Herzen besänftigt. Lessings Gestalten: Altgediente im humanistischen Einsatz – Jerusalemuren. Der Jude hat einen langen Bart, und die Platte Lessing hat einen Sprung.
Ja, bei Lessings Stück darf einem schon ein wenig Müdigkeit hinter die Augen schießen. Denn es gibt eine Wahrheit, deren Unumstößlichkeit langweilt, und es gibt eine Moralhöhe, von der man sich nur hinunterstürzen möchte, um noch Leben zu spüren. Der Rest wurde Verpflich- tung zur politischen Korrektheit – denn freilich ist Nathan, ist die Ringparabel, ist jenes Beben zwischen Christen, Juden und Muselmännern, das sich im Stück märchengut selber schlichtet, ein hoch akuter, sittenstiftender Stoff. Und muss also aufgeführt und somit weitergegeben werden. Muss? Dies genau ist das Übel: wenn das Gute – muss. Und Ritual-Routine wird, etwa an die öde Lichterkette gefesselt. Kampf und Krampf, verfluchtes Ineinander. Die »gute Sache« ist immer die schnellst wirksame Schlaftablette. Leider.
Lösch und sein Dramaturg Stefan Bläske erfanden einen Rahmen. Die Muslime als Schulklasse, zunächst wahrlich: Schläfer auf den Bänken. Ein Klassenzimmer (Bühne: Cary Gayler). Der Lehrer weckt, nervt, reizt sie mit Huntingtons »Kampf der Kulturen«. Er stemmt sich dozierend gegen die Schultische, als schiebe er Geschütze durch Kriegsschlamm. Genau so spielt Glenn Goltz diesen Päda(dema)gogen: Angriff; Patriotismus als Vorwärtsverteidigung; auf dem Kopf Glatze, im Kopf Stahlhelm. Aufklärung ist ihm eine Kläranlage: Sauber ist das nicht, so viel Islam. Oder, in AfD-Anlehnung: Frau Storch, was kommt von draußen rein? Rein sieht anders aus. Kampf der Kulturen, genau, und der Sieger steht fest, er bewegt sich, er ist eine Bewegung geworden, das geht gut, mitten im Stillhalten so vieler. Deutschland ist nicht Islam, und deshalb ist das wache Deutschland nicht lahm. Ja, so frontforsch klingt dieser Unterricht. Finden die Schüler auch und bombardieren den Lehrer mit den gelben Lessing-Reclamheftchen, die er in Unmengen aus Hose und Jacke gefingert und verteilt hatte.
Zu Beginn stand der Lehrer mitten im Publikum, eine Stimme der Angst, er zählt die europäischen Attentatsopfer der letzten Jahre auf – nicht jeder Muslim sei ein Terrorist, nein, nein, aber alle bisherigen Terroristen waren Muslime. Der Besorgte, der aufs Entsorgen baut. Plötzlich Explosionsgeräusche, ohrenbetäubend. Krieg. Lichtblitz. Die Welt bricht auseinander – das Klassenzimmer auf der Bühne reißt auf zu zwei Ruinenhälften, und durch die Mitte schiebt sich ein reclamgelber Keil nach vorn, eine kleine Spielflä- che für die Nathan-Geschichte. Sie geschieht gleichsam in Schüben, begleitet, unterbrochen, ergänzt von chorischen Biografie-Splittern der Muslime.
Ein bedrängendes Fragen und Forschen ins Publikum, alles knallt gegeneinander, die Klischees und die hochtreibenden, aufreibenden Konflikte: Ausgrenzung, Judentum, Dschihad, Homosexualität, Ritualstrenge, Freiheit, Mohamed-Karikaturen, Burkapflicht, Koran und Bibel, Solidarität. Plädoyers gegen einen Glauben, der aufs Unbedingte verpflichten will. Appelle für eine einzige Unbedingtheit: Jeder nach seiner Fasson! Und wenn schon Normen, dann universelle. Freilich war kein strengst religiöser, gar fundamentalistischer Gläubiger für eine Mitarbeit an der Inszenierung zu gewinnen, so wird immer wieder ein seit Tagen abwesender Schüler der Klasse »aufgerufen« – und mit ihm jenes Denken, das zur Wahrheit der Lage gehört. Ein Denken, in dem die Unlösbarkeit der Dinge lodert, die Unzugänglichkeit zum Grund des Bösen flackert und fiebert.
Unzugänglichkeit wie Wände. Die unsichtbar auch zwischen Lessings Gestalten klotzen. Und alle sechs Schauspieler bewegen sich taumelnd, als holten sie sich fortwährend blutige Wände an solcher Welt. Auf der kleinen Spielfläche – wenig Raum für die Darsteller – haben auch Gewehr, Säbel, Geldkoffer ihre Hauptrolle. Interessengeschacher. Was von der Geschichte stattfindet, ist nicht Fleisch, sondern Kern. Aber den trifft Lösch. Das Gejagte, das Kerkerdasein in einer (religiösen, finanziellen) Fremdsteuerung, das mühselige Geschäft der ideologischen Abgrenzung. Vor allem: die Qualen, mit der eigenen Biografie Frieden zu schließen. Bernd Braun als Nathan: schwarz gemantelt, eingeschnürt von der Weltlage. Jan Jaroszeks Tempelherr: soldatisch gefesselt, seelisch bebend. Und Julia Keilings Recha: ein schönes WeibsAuftrumpfen, das sich seinen Weg bahnt durch Freiheitsängste und formelle Sittlichkeit. Unsicherheit treibt all diese Menschen in die Lautstärke. Die Ringparabel-Frage nach der rechten Religion: so allgemein wahr, so pädagogisch abgearbeitet, so for- schend durchgekaut, so elendig richtig, so ermüdend klassisch – Brauns Nathan japst den Text, atemrasselschnell, denn Saladins Degenspitze bedrängt seinen Hals (ja ja, wir müssen Freunde sein!).
Wie immer in seinen StimmenNetzwerken ist Lösch unverblümt, grell, von einer Wucht, die wie eine Druckwelle wirkt. Überzeugend präzis die Chöre, clownesk und hämmernd grob die Überzeichnungen. Etwa wenn ein sehr westlich uniformierter Soldat alle Muslime niedermäht – ein brutalster Amok der Überforderung. Oder wenn eine IS-Fahne geschwungen und Enthauptung gespielt wird. Wenn Muslime vollbartdämonisch ins Publikum rennen und grimassierend ein Stoffbündel zwischen uns werfen, als sei es Sprengstoff. Wenn der Bauch tanzt und die Burka schwarz-rot-gold gemustert ist.
Das Theater Volker Löschs ist Ansprache, Debatte, Lehrstück, direkter Witz. Irgendwann bricht Lehrers Hass sich Bahn, er schiebt die beiden Klassenzimmerhälften nach hinten (»ich schieb euch ab!«). Auf leerer Bühne verliest Schauspieler Glenn Goltz erschreckende Antworten auf eine Umfrage unter Bonner Theaterbesuchern. Ob der Islam zu Deutschland gehöre? Eine minutenlange Suada des Militanten: Hass und Häme. Abwehr und Aburteil. Schwer erträglich, trotzdem wahr. Wahr vor allem, wie in den Antworten die Grenzen zwischen rechts und rechtsradikal verschwimmen. Um den Vorleser herum die tanzenden Muslime. Belustigung? Beschwörung? Der Kreis der Zwölf wird sich schließlich um den Vorleser schließen, ihn verschlucken. Jetzt steht die neue Ordnung als Reihe – zwölf Burkas, zwölf verschleierte Gesichter. Eine Bastion. So, wie vorher schon alle »Nathan«-Gestalten, ob männlich oder weiblich, als orientalisch Vermummte »endeten«, außer Nathan selbst, der einsam etwas abseits steht. Houellebecq grüßt Lessing? Statt Happy End Unterwerfung? Oder eher Überwindung? Nämlich unserer identitätspolitischen Erschütterung, aus der wir womöglich nicht mehr zurückfinden in ein (v)erträgliches Zentrum aus Freiheit und Demokratie.
Wie immer in seinen Stimmen-Netzwerken ist Lösch unverblümt, grell, von einer Wucht, die wie eine Druckwelle wirkt.