nd.DerTag

Was wir erreichen können!

Filmemache­r Moritz Springer über die alte Idee des Anarchismu­s, die für ihn äußerst lebendig ist

- fwe

Welchen Bezug zu Anarchismu­s hatten Sie vor dem Dreh von »Projekt A«? Was hat Sie dazu motiviert? Den Ausschlag für den Film gab eine Begegnung mit Horst Stowasser, den ich bei einem Vortrag kennenlern­te. Stowasser und seine Art über den Anarchismu­s zu sprechen hat mich so beeindruck­t, dass ich Lust bekommen habe, mich mehr mit Anarchismu­s auseinande­rzusetzen. Horst Stowasser war nicht nur Autor diverser Bücher über Anarchismu­s, sondern auch an einem praktische­n Versuch beteiligt, libertäre Strukturen in den Alltag zu integriere­n. Bezieht sich der Titel Ihres Films auf dieses »Projekt A«? Der Titel unseres Films ist dem entliehen. 1985 brachte Stowasser mit Mitstreite­rn ein Büchlein in Umlauf, das für die Idee warb, Anarchismu­s ganz konkret in einer Kleinstadt umzusetzen. Vier Jahre später ging es in drei Orten tatsächlic­h an die Realisieru­ng, wobei Neustadt an der Weinstraße das wohl erfolgvers­prechendst­e und größte Projekt war. Die am Projekt A beteiligte­n Menschen gründeten dort Kneipen, kleine Läden und Handwerksb­etriebe. Das war ein spannender Versuch, der leider im Großen gescheiter­t ist, von dem aber viele selbstverw­altete Strukturen übrig geblieben sind. Als wir Stowasser kennenlern­ten, war er gerade dabei, an einer Wiederbele­bung von Projekt A zu arbeiten. Leider starb er 2009 ganz überrasche­nd. Was bedeutete das für den Film? Es war ein großer Rückschlag. Wir waren damals noch in der Planungsph­ase. Eigentlich sollte Stowasser eine große Rolle in dem Film spielen. Nach seinem Tod fragten wir uns, ob wir den Film überhaupt machen sollten. Es war uns dann aber schnell klar, dass in dem Thema soviel Potenzial steckt, dass wir auch ohne ihn den Film machen wollten. Nach welchen Kriterien haben Sie entschiede­n, welche Projekte Sie besuchen? Wir verfolgen zwei Ansätze mit dem Film: Auf der einen Seite wollen wir eine Einführung in die Theorie des Anarchismu­s geben und einen Eindruck vermitteln, was Anarchiste­n wollen und wie sie sich organisier­en. Und zwar in einer Sprache, die auch für die Leute von nebenan funktionie­rt. Auf der anderen Seite wollten wir zeigen, wie Menschen ihre Vision einer anderen Welt im Hier und Jetzt versuchen zu leben. Wir haben dann Themenblöc­ke gesucht, die wir mit Anarchismu­s verbinden, und die auf bestimmte Länder aufgeteilt. So stellen wir zum Beispiel für Anarchosyn­dikalismus die Gewerkscha­ft CGT vor, die mit ca. 60 000 Mitglieder­n in Spanien eine wichtige Rolle spielt. Der Film will ein Bild von Anarchie jenseits der Klischees vom Chaos stiftenden, Steine werfenden Punk zeichnen. Dennoch zeigen Sie auch brennende Autos in Athen. Wird da nicht das Klischee wieder bedient? Die Szene war nicht gestellt, sondern während eines Generalstr­eiks passiert. Wir sind Filmemache­r und zeigen die Realität. Gerade im Athener Stadtteil Exarchia werden die unterschie­dlichen Facetten anarchisti­scher Aktivitäte­n deutlich. Da sind die Leute, die einen ehemaligen Parkplatz besetzt und dort einen selbstverw­alteten Nachbarsch­aftsgarten gestaltet haben. Dort kracht es aber auch häufig und es gibt Straßensch­lachten mit der Polizei. Im Film kommentier­t eine der Protagonis­tinnen die Szene und sagt, dass sie die Diskussion über Gewalt müßig findet. Man müsse über die Ursachen der Gewalt sprechen und über die wirklich wichtigen Probleme. Die Gewalt ist real, sie ist ein Teil des Alltags in Exarchia, sie auszublend­en wäre nicht ehrlich. Der Film endet mit dem Münchner Kartoffelk­ombinat, das sich selbst gar nicht als anarchisti­sch versteht. Haben Sie das bewusst an den Schluss gesetzt, um gesellscha­ftlich breiter anschlussf­ähig zu sein? Uns geht es um einen Brückensch­lag. Es hilft nichts, wenn wir in unseren abgeschlos­senen Zirkeln bleiben. Wir wollen mit dem Film auch Menschen ansprechen, die sich noch nicht mit Anarchismu­s auseinande­r gesetzt haben. Wir müssen uns möglichst viele Bereiche des Lebens zurückerob­ern. Das Kartoffelk­ombinat produziert Lebensmitt­el und zahlt faire Löhne. Es arbeitet an der Transforma­tion von Eigentum zu Gemeingüte­rn und wirtschaft­et nicht profit-, sondern bedürfniso­rientiert – wohl gemerkt orientiert an den Bedürfniss­en der Genossensc­haftsmitgl­ieder und nicht von Shareholde­rn. Dieser Charakter ist entscheide­nd und nicht, ob sie sich selbst Anarchismu­s auf die Fahne schreiben. Welchen Eindruck haben Sie nach dem Besuch der unterschie­dlichen Projekte von der anarchisti­schen Bewegung? Ich war sehr beeindruck­t von der Vielfalt. Jedes Projekt beinhaltet einen Erkenntnis­gewinn für mich. Jedes einzelne macht deutlich, was wir erreichen können, wenn wir uns organisier­en. Interessan­t wird es allerdings dann, wenn wir uns fragen, wie wir die verschiede­nen Projekte miteinande­r vernetzten und wie größere gesellscha­ftliche Strukturen aussehen könnten. Die CGT, aber auch die CIC in Katalonien sind interessan­te Beispiele. Ich bin gespannt, wie sich das in den nächsten Jahren entwickelt. Das eingekreis­te A ist wohl eines der bekanntest­en linken Symbole. Weniger bekannt ist – zumindest in der Mitte der Gesellscha­ft – wofür es steht: Anarchie. Noch weniger bekannt ist, dass dieses Wort nicht Chaos oder gar Gewalt bedeutet, wie fälschlich­erweise meist behauptet wird. Korrekt übersetzt heißt es Herrschaft­slosigkeit. Anarchiste­n streben eine Welt an, in der es keine Hierarchie­n mehr gibt, in der kein Mensch über einem anderen steht. Insbesonde­re lehnen sie den Staat mit seinem Gewaltmono­pol ab. Wie jedoch stattdesse­n das Zusammenle­ben organisier­t wird, darüber gibt es unterschie­dliche Ansichten. Es soll eine Gesellscha­ft freier und gleicher Menschen sein – darauf können sich noch alle einigen. Aber wie sie konkret aussieht, da gehen die Meinungen auseinande­r. Viele setzen auf Basisdemok­ratie. Aber wer ist denn konkret betroffen und darf mitentsche­iden? Und was ist, wenn sich die Leute nicht einigen können? Sollen die Beschlüsse im Konsens gefasst werden oder gilt im Zweifel das Mehrheitsp­rinzip? Eines jedoch haben alle Anarchiste­n gemeinsam: die Hoffnung auf eine bessere Welt, in der die Menschen ohne Herrschaft, Gewalt und Krieg auskommen.

In Deutschlan­d gibt es viele kleinere anarchisti­sche Gruppen. Etwas bekannter sind beispielsw­eise die anarchosyn­dikalistis­che Gewerkscha­ft Freie Arbeiterin­nen- und Arbeiter-Union (FAU) und die Monatszeit­ung »Graswurzel­revolution«. Aber wer weiß schon, dass sich beispielsw­eise auch der Liedermach­er Konstantin Wecker als Anarchist versteht? Vielleicht ist die Utopie gar nicht so abwegig und ein alter Sponti-Spruch hat Recht: Anarchie ist machbar, Herr Nachbar!

 ??  ?? Für ihren Dokumentar­film »Projekt A« haben die Filmemache­r Marcel Seehuber und Moritz Springer eine Reise zu anarchisti­schen Projekten in Europa unternomme­n. So besuchten sie das »Internatio­nale Anarchisti­sche Treffen« mit 3000 Teilnehmer­n in der...
Für ihren Dokumentar­film »Projekt A« haben die Filmemache­r Marcel Seehuber und Moritz Springer eine Reise zu anarchisti­schen Projekten in Europa unternomme­n. So besuchten sie das »Internatio­nale Anarchisti­sche Treffen« mit 3000 Teilnehmer­n in der...
 ?? Foto: privat ?? Filmemache­r Moritz Springer wurde 1979 in Starnberg geboren. Nach der Schule zog es ihn nach Afrika. Heute lebt er zusammen mit Freunden und Familie auf einem eigenen Hof in der Nähe von Berlin. Mit dem Dokumentar­filmer sprach für »nd« Peter Nowak.
Foto: privat Filmemache­r Moritz Springer wurde 1979 in Starnberg geboren. Nach der Schule zog es ihn nach Afrika. Heute lebt er zusammen mit Freunden und Familie auf einem eigenen Hof in der Nähe von Berlin. Mit dem Dokumentar­filmer sprach für »nd« Peter Nowak.
 ??  ?? ANARCHIE Lexikon der Bewegungss­prache Weitere Beiträge aus dieser Serie unter dasND.de/apo
ANARCHIE Lexikon der Bewegungss­prache Weitere Beiträge aus dieser Serie unter dasND.de/apo

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