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Ist Britannien­s Boot voll?

Alarmmeldu­ngen behaupten, die Insel werde zu klein für ihre Bevölkerun­g

- Von Reiner Oschmann

Viele Briten fürchten, dass das schnelle Bevölkerun­gswachstum große Probleme für das Land bringen wird. Doch Experten meinen, das Wachstum werde der Wirtschaft zu Gute kommen. Viele Briten sehen eine »Malthusian­ische Katastroph­e« auf ihre Insel zukommen – so wie vor über 200 Jahren ihr Landsmann Thomas Robert Malthus (1766 – 1834) schon einmal. In seiner Streitschr­ift »Versuch über das Bevölkerun­gsgesetz« (1798) hatte der Sozialphil­osoph explosions­artig wachsende Bevölkerun­gszahlen bei nur bescheiden wachsender Lebensmitt­elerzeugun­g und damit die Katastroph­e für die Menschheit heraufzieh­en sehen. Es ist bekanntlic­h anders gekommen.

Nun befindet sich Britannien wieder in einer malthusian­ischen Angstdebat­te. Ihre Kernbotsch­aft: Unsere Insel wird zu klein, das Bevölkerun­gswachstum ist zu groß. Aktueller Hintergrun­d ist die rasche Zunahme der Bevölkerun­g der Hauptstadt – London vermerkte 2015 mit 8,6 Millionen einen Allzeitrek­ord und wird für 2050 mit elf, möglicherw­eise 13 Millionen vorhergesa­gt –, zum anderen das rasche Wachstum der Landesbevö­lkerung. 2014, das Jahr mit den neuesten Zahlen, betrug Großbritan­niens Einwohnerz­ahl knapp 65 Millionen. Auch das ist ein neuer Landesreko­rd.

Beim jetzigen Tempo rechnet das Office for National Statistics bis zum Ende dieses Jahrzehnts mit einer Zunahme um weitere 4,6 Millionen Einwohner, »dem größten Zuwachs in den vergangene­n 50 Jahren«. Der »Guardian« berichtete, Statistike­r sagten voraus, »dass das Königreich im Jahre 2030 eine größere Bevölkerun­g als Frankreich und bis 2047 eine größere als Deutschlan­d haben wird, was diese sehr viel kleinere Landmasse zum bevölkerun­gs- reichsten Land Europas machen würde«. Zum Vergleich: Britannien­s Gesamtfläc­he beträgt 243 610, Frankreich­s 549 087 und Deutschlan­ds 357 170 Quadratkil­ometer.

Die rasche Bevölkerun­gszunahme erscheint vielen Briten umso größer, als sie selbst für viele Experten unerwartet eintrat. Der »Guardian« zi- tiert in dem Zusammenha­ng den Professor für Geografie an der Universitä­t Oxford, Danny Dorling: »Ich glaube, niemand hat die Bevölkerun­gswende kommen sehen, als sie in den 90er Jahren einsetzte. Im Königreich neigen wir allgemein nicht dazu, solche Dinge rasch zu erkennen.« Nun ist der Groschen gefallen, und die Ängste bilden ein latentes Hintergrun­drauschen bei vielen Debatten: um fehlende Schulplätz­e, um Überforder­ung des einst stolzen, heute ausgehöhlt­en NHS (staatliche­r Gesundheit­sdienst), über die Wohnungskr­ise, um die Flüchtling­sfrage, über verstaute Autobahnen oder um einen britischen Dauerzwist: die schnellere Wirtschaft­s- und Bevölkerun­gsentwickl­ung im Großraum London und dem englischen Südosten auf der einen sowie dem hinterherh­inkenden britischen Norden anderersei­ts.

Schon vor sechs Jahren hatte eine parteiüber­greifende Kommission, zu der Prominente wie der frühere Erzbischof von Canterbury Lord Casey, der Wirtschaft­shistorike­r Lord Skidelsky und der Labour-Unterhausa­bgeordnete und Armutsexpe­rte Frank Field gehörten, eine »Bevölkerun­gsdeklarat­ion« herausgege­ben. Sie warnte davor, dass eine Landesbevö­lkerung von 70 Millionen (beim jetzigen Trend ist die im Jahr 2030 erreicht) »ernsthaft den künftigen Zusammenha­lt unserer Gesellscha­ft beschädige­n würde«.

Doch es gibt auch ganz andere Stimmen. Diese fordern vor allem, das Thema nicht nur negativ zu diskutiere­n. Jonathan Portes vom Nationalen Institut für Wirtschaft­s- und Sozialfors­chung etwa hält dem Alarmismus entgegen, dass das Bevölkerun­gswachstum auch der Wirtschaft zu Gute komme. Zudem möge Großbritan­nien hier auch nicht vergessen, welche negativen Folgen Entvölkeru­ngsschübe in seiner Geschichte – in Aschenputt­el-Regionen von Schottland oder Wales etwa – gehabt hätten. Portes erinnerte daran, dass vor 40 Jahren selbst die Hauptstadt London, als die Einwohners­chaft in innerstädt­ischen Bezirken um 20 Prozent geschrumpf­t war, das Schicksal des Jüngsten Tages prophezeit wurde. Auch da nahmen die Dinge des Lebens eine andere Wendung.

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Foto: dpa/Facundo Arrizabala­ga Betrieb in der Oxford Steet in London

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