Ekel, Hass, Bitternis
Vor 75 Jahren starb der Dichter Oskar Loerke
»Die Welt hat seinem reinen Herzen zu viel von ihrem Wermut geboten, und daran eigentlich ist Oskar Loerke gestorben!«
Peter Suhrkamp
Am 6. Februar 1940 schrieb er sein Testament. Oskar Loerke war jetzt fünfundfünfzig Jahre alt, und er spürte, wie die Kräfte schwanden, die Müdigkeit zunahm. Er begann mit den Worten: »Alle meine Freunde wissen, daß ich nichts, was heilig ist auf Erden, verraten habe. Seit meinem bewußten Denken und Fühlen denke ich über menschliche Ehre und Würde genau wie heute, jede Sekunde bei Tag und Nacht.« Er bat um ein ärmliches Begräbnis ohne Nachrede und dass nur »die wahren Freunde« daran teilnehmen sollten. Sie könnten sich vielleicht später, nach Wochen oder Monaten, in kleinem Kreis noch einmal zu einer Gedenkstunde treffen, und er wünschte sich, dass dann jemand auf dem Klavier das »Benedictus« aus der f-Moll-Messe von Bruckner spielen würde. Die Musik war seit langem sein einziger Halt. Sie hatte ihn wieder und wieder getröstet und am Leben gehalten, Schwermut und Verzweiflung gemildert. Doch das Leben, verdüstert von Krankheit und den Finsternissen des Tages, wurde immer quälender. Ihm blieb noch ein Jahr, dann, am 24. Februar 1941, versagte das strapazierte Herz seinen Dienst.
»Es war ein schweres, hartes und oft verzweifeltes Leben«, schrieb Hermann Hesse 1956 in der Zürcher »Weltwoche«, »das dieser edle Dichter zwischen den Forderungen seines Schöpfertums, den Lasten und schwer empfundenen Verantwortungen seines Brotberufes hat bestehen müssen.« Es war nicht übertrieben. Loerke, im März 1884 in einem Nest an der Weichsel geboren, von der Größe und Stille der westpreußischen Landschaft geprägt, studierte in Berlin Philosophie, Geschichte, Germanistik und Musik, publizierte im Februar 1907 sein erstes Buch, eine Erzählung mit dem Titel »Vineta«, sah sich im Hauptberuf nun als Schriftsteller, erhielt 1913 für seine Gedichte und Prosastücke den renommierten Kleist-Preis und nahm 1914, um Geld zu verdienen, eine schlecht bezahlte Stelle als Dramaturg an. Ins Tagebuch, das er seit 1913 führte, schrieb er am 27. September 1914: »Wie ist doch entsetzlich, was ich jetzt tue. Stücke lesen, die auf einem Niveau stehen, das von jeder Art Wert wer weiß wie weit entfernt ist, Reklame machen für Blödsinn, die sich aus Geschäftswucher etabliert. Ich habe alle Tage einen Ekel davor. Das Einzige ist noch die Musik.«
Der Zwiespalt, in dem Loerke steckte, war bald schon nicht mehr zu übersehen. Er wollte für seine Dichtung leben (und hat ja auch neben Arbeiten über Bach und Bruckner im Lauf der Jahre sieben Lyrikbände veröffentlicht), aber der Brotberuf fraß Zeit und Energie. Seit 1917 arbeitete er als Lektor im S. Fischer Verlag. 1926 wurde er Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, Sektion Dicht- kunst, zwei Jahre später (und bis zu seiner Absetzung durch die Nazis) auch deren Sekretär. Durch seine Hände gingen die Manuskripte der großen Autoren, die bei S. Fischer ediert wurden (der berühmteste Gerhart Hauptmann), er kannte sie alle, man sah sich, redete, konferierte, feierte, man schätzte seinen Sachverstand, seine Aufrichtigkeit, seine Gü- te, aber das Lektorendasein hat er zunehmend als Last empfunden. »Schwer«, notierte er am 8. Oktober 1933, »zur Selbstbesinnung zu kommen, Romane lesen – schrecklichster der Schrecken.«
Da hatten die Jahre der Not schon begonnen. »Viel Entsetzliches hat sich ereignet«, heißt es am 14. Februar 1933 im Tagebuch. »Alles bricht zusammen.« Später wird er seine Formulierungen sorgfältig prüfen, manche Passage wieder herausschneiden oder korrigieren. »Viel Entsetzliches« wird dann gestrichen und durch »Viel Entscheidendes« ersetzt. Loerke litt. Litt, weil er die dringende Bitte Samuel Fischers, der um die Existenz seines jüdischen Verlags fürchtete, nicht ausschlagen konnte und eine Ergebenheitsadresse für das Hitler-Regime unterzeichnet hatte. Er schlief schlecht, sah erschrocken, wie die Akademie der Künste brutal auf den Kurs der Nationalsozialisten gebracht wurde, atmete auf, wenn er sich mit seinen Gedichten beschäftigen konnte. Aber immer wieder solche Sätze: »Rasender Fortsturz des Lebens. Viel Arbeit, viel Anstrengung der Physis, Stimulantia – daher viel Unordnung über der Ordnung. Unaufhaltsamer Niedergang.« Ein andermal: »Miserabel geschlafen. Halluzinatorische Zukunftsvisionen.« Oder: »… steigende Verbitterung über die Sklaverei und Barbarei.« Mit »ungeheurer nervenfressender Anstrengung« bewältigte er die Manuskriptstapel, die ins Haus kamen. Loerke lektorierte in seiner Wohnung in Berlin-Frohnau. Einmal in der Woche fuhr er in den Verlag, um zu telefonieren, seine Gutachten abzugeben und sich mit neuen Manuskripten zu versorgen.
Die Freuden in seinem Leben blieben nun Ausnahmen. Mal war es ein Ausflug, der ihn entzückte, mal ein Urlaub (den er für die Arbeit an den Gedichten nutzte), mal das Blütenmeer im Garten, ein Anruf Gerhart Hauptmanns, das unverhoffte, in den »kühnsten und frechsten Träumen« nicht erwartete Echo, das sein fünfzigster Geburtstag in der Presse fand. »Ich muß nun die Überzeugung behalten«, resümierte er, »daß meine Verse nicht untergehen werden, bevor sie ihre Wirkung getan haben.«
Hans-Henny Jahnn, dem Loerke 1913 den Kleist-Preis zuerkannt hatte, sah ihn noch einmal nach 1933. »Er gestand mir«, berichtete er, »daß er große Mühe habe, des Nachts sadistische Rachegedanken gegen die Henker, die gekommen waren, zu unterdrücken. Ja, er wurde fähig, zu hassen, dieser Gütige«. Er habe sich »mit allem Guten bemüht und gewehrt«, schrieb Loerke 1934, »das Böse aber hat die Übermacht gewonnen von draußen …« Seine Verse, bildkräftig und voller Musikalität, zuletzt mit deutlichen Bezügen zur gesellschaftlichen Realität, feierten weiter die Natur und die Musik, die Wunder der Schöpfung, die Hoffnung, die in der Dichtung bewahrt ist: »Jedwedes blutgefügte Reich / Sinkt ein, dem Maulwurfshügel gleich. / Jedwedes lichtgeborne Wort / Wirkt durch das Dunkel fort und fort.« Und in den Essays, 1939 gesammelt in einem Band, dem er den Titel »Hausfreunde« gab, würdigte er Herder und Jean Paul, Goethe, Stifter und Rückert (»die nicht am Markte und im Tagesstaube hausen«), Hugo Wolf, Renée Sintenis und ihren Mann, den Freund und Buchkünstler Emil Rudolf Weiß (der die Sammlung auch ausgestattet hat).
Loerkes Tagebuch, immer kontinuierlich geführt und von Hermann Kasack 1955 in Auszügen publiziert, bricht am 16. Dezember 1939, einem Sonnabend, ab. Die letzten Worte, eine Notiz zum Wetter, die sich wie eine Metapher liest, lauten: »Seit einigen Tagen Winterfrost.« Begegnete ihm das Gemeine, wird Peter Suhrkamp am Grab des Freundes sagen, »verstummte er in einer hilflosen Bitternis, wandte sich ab und ging angeekelt in seine Einsamkeit. Die Welt hat seinem reinen Herzen zu viel von ihrem Wermut geboten, und daran eigentlich ist Oskar Loerke gestorben!«