Das Rezept der Unsterblichkeit
Deutsche Oper Berlin: »Die Sache Makropulos«
Ein merkwürdiger Raum, in dem merkwürdige Dinge vor sich gehen. An der rechten Seite nagelneue Schranktüren und Regale, grauweiß, praktisch und steril. Links Wandfelder mit abgeblätterter Ledertapete und verwischten Farben, bröckelnder Stuck; alles uralt und vernutzt. Im Raum ein halbes Dutzend rothaariger Damen, still und stumm, gekleidet in antiquierte Miederwaren. Sie steigen als strenge Prozession über eine Treppe aus dieser zwielichtigen Gruft in die Lüfte der Phantasie. Was war das? Ein somnambules Trugbild? Dazu rattert und rauscht die Ouvertüre zu Leoš Janáčeks höchst merkwürdiger Oper »Die Sache Makropulos« vorüber. Die Musik stampft motorisch oder leuchtet in opulenten Melodiephrasen auf, sie scheint nicht recht zu wissen, ob sie ein Geschehen vorantreiben oder in leer laufender Bewegung festhalten soll. Donald Runnicles am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin zelebriert Überwältigungs-Klangpracht und er tariert diesen rasenden Stillstand sehr genau aus.
Plötzlich, mit Beginn des 1. Aktes, erscheint alles sonnenklar. Der Raum ist eine Anwaltskanzlei und es geht um einen Prozess, der, wenn er nicht gerade heute eingestellt werden sollte, demnächst seit 100 Jahren liefe – zur Freude vieler Generationen der Anwaltsfamilie Kolenatý. Um die Güter, ein Millionenerbe des 1827 kinderlos gestorbenen Barons Ferdinand Prus, streiten sich Jaroslav Prus und Albert Gregor. Keiner kann ein Testament vorweisen, die Sache steckt in der Operngegenwart, Prag Anfang des 20. Jahrhunderts, fest.
Kafka ist hier zwar nicht am Werk gewesen, aber dafür ein anderer Prager: Karel Čapek, auf dessen gleichnamiger Komödie die »Sache Makropulos« basiert.
In der Causa Prus/Gregor hilft jetzt nur noch ein Deus ex machina, und mit dieser Gestalt hat Janáček der utopischen Komödie Čapeks eine große menschliche und philosophische Tiefe gegeben. Emilia Marty tritt auf, ein Opernstar, jung und verführerisch schön, eine Diva, die alle um sie herum in Verzückung versetzt. Sie hat ein unglaubliches Wissen um Dinge der Vergangenheit, kennt sogar das Versteck des Testaments. Der Schwarm Männer um sie herum, Kolenatý, dessen Gehilfe Vitek, Albert Gregor, Baron Prus und dessen Sohn Janek, scheint sie indes bis zum Überdruss zu langweilen; als Janek sich ihretwegen erschieß, winkt sie nur ab. Kein Wunder, sie kennt das seit 300 Jahren. Emilia Marty sucht die »Sache Makropulos«, ein Unsterblichkeitsrezept. Ihr Vater Hieronymus Makropulos hatte es in den 1530er Jahren an seiner 12-jährigen Tochter Elina ausprobiert. Seither geht sie mit wechselnden Identitäten, aber immer als E. M. durch Länder und Zeiten. Einmal, vor 100 Jahren, liebte sie Ferdinand Prus und schenkte ihm die »Sache«. Nun aber ist es an der Zeit, die Anwendung zu erneuern, die Wirkung lässt nach.
Als Emilia das Rezept in der Hand hält, weiß sie nicht, was sie tun soll. Jung, schön, begehrt, berühmt bleiben! Das Geratter und Geplapper der Welt in ewiger Wiederholung weitere 300 Jahre um sich herum ablaufen lassen wie eine ständig nachgefüllte Sanduhr? Janáček, 70jährig der große Kenner menschlicher Herzen, weiblicher Herzen, hält seine Musik für diese Lebensund Todes-Entscheidung gleichsam an. Bis jetzt erklärte, verlangte, wünschte, befahl Emilia, sang rezitativisch aufgeregte Textmengen – nun ist der Moment arioser Beruhigung gekommen. In großer melodischer Emphase sagt, singt sie sich los von immer neuen, stetig sinnloseren Existenzen. Das Leben erfüllt sich durch Jugend, Alter und Tod, begreift sie, getragen von der Musik. Hier hat das wunderbar vielfarbig musizierende Orchester seine ergreifendsten und lyrischsten Momente.
In Christof Hetzers mehrdeutig zeitentrücktem Bühnenraum lässt Regisseur David Hermann die 300 Jahre Leben der Emilia Marty wie in einem mehrfach belichteten Film ablaufen. Gleichzeitig sieht man sie in der Anwaltskanzlei und links auf der Bühne im Rokokoschloss ihres geliebten Pepi. Sie erscheint, von stummen Frauen versechsfacht und immer umglänzt von rotem Haar, im Renaissancekostüm und als russische Fürstin, als deutsche Sängerin, elegante Wienerin und andalusische Tänzerin. Sie umarmt ihren Sohn und wird die Trauer um ihn nicht los.
Evelyn Herlitzius, die zarteste aller Bayreuth-Heroinen, ist eine Idealbesetzung für die Emilia. Sie kann die Nervosität und Getriebenheit ihrer Figur in auflodernde stimmliche Exaltiertheit übersetzen, sie kann kalt bis ins Mark ihrer Knochen klingen, und am Schluss der riesigen Partie leuchtet dann grandios und innig ihr Abschiedsgesang. Emilias junge Sängerkollegin Krista, Jana Kurucová, und alle sie umkreisenden männlichen Trabanten sind ebenfalls durchweg vorzüglich besetzt, was die künstlerische Geschlossenheit dieser sehr gelungenen Produktion nicht unwesentlich ausmacht. Leoš Janáček, so ist zu lernen, ist in jedem seiner Werke eine Überraschung und Entdeckung.