Akten dürfen nicht geschlossen werden
30 Jahre nach Tschernobyl und 5 Jahre nach Fukushima lässt sich das Ausmaß der Strahlenfolgen nur hochrechnen
Zu den Auswirkungen der beiden größten Atomunfälle der Menschheitsgeschichte gibt es keine kontinuierlichen Studien. Wissenschaftler versuchen, aus vorhandenen Daten Schlussfolgerungen zu ziehen. Schilddrüsenkrebs, Totgeburten, Fehlbildungen – dass atomare Strahlung schwere Schäden im Körper verursachen kann, ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts bekannt. Wie stark sich jedoch Strahlung auf die Gesundheit auswirkt, darüber streiten Wissenschaftler: »Die medizinisch-biologische Bewertung von Strahlenfolgen ist bis heute eine kontroverse Angelegenheit. Es geht um den Streit, wie viel radioaktive Kontamination eine Gesellschaft aus industriepolitischen Gründen heraus ertragen muss – ähnlich wie bei der Bewertung von chemisch und toxisch bedingten Umweltschäden«, schreiben die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) in ihrer Metastudie »30 Jahre Leben mit Tschernobyl, 5 Jahre Leben mit Fukushima«. Bei nuklearen Unfällen wird die Datenlage noch dadurch verschlechtert, dass Politik und Wirtschaft Inte- resse daran haben, Folgen zu verschweigen oder zumindest kleinzureden.
Das zeigte sich nach der durch menschliche Fehler und Konstruktionsmängel verursachten Reaktorexplosion im ukrainischen AKW Tschernobyl im April 1986 ebenso wie nach der durch Naturkatastrophen in Verbindung mit ungenügenden Sicherheitssystemen ausgelösten Kernschmelze im japanischen AKW Fukushima im März 2011. Laut IPPNW wird die Analyse der Folgen von Tschernobyl etwa dadurch erschwert, dass wesentliche Daten nicht zugänglich sind. Der Unfall wurde der Bevölkerung tagelang verschwiegen, auch danach gab es Informationen nur »politisch bereinigt« und dosiert. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion änderten sich Zuständigkeiten und politische Interessen. So ist völlig unklar, wie viel radioaktives Material während und nach dem GAU austrat: »Die unterschiedlichen Schätzungen reichen von 3,5 Prozent bis 95 Prozent des ursprünglichen Reaktorinventars«, so die Ärzteorganisation.
»Auch in Japan setzt die aktuelle, mit der Atomindustrie eng verflochtene Regierung alles daran, die Akte Fukushima so schnell wie möglich zu schließen«, heißt es weiter. Außer der Untersuchung der Schilddrüsen aller Kinder zwischen 0 und 18 Jahren in der Provinz Fukushima gebe es keine übergreifenden Studien zu Strahlenfolgen, so die IPPNW. Die Mitarbeiter des AKW-Betreibers Tepco würden regelmäßig medizinisch durchgecheckt, die Beschäftigten der Subunternehmen, die ebenfalls am havarierten Reaktor aufräumen, jedoch nicht. Gesetze zum »Geheimnisverrat« erschwerten es Wissenschaftlern und Journalisten zudem, unabhängig zu forschen und zu berichten.
Nun hat die Ärzteorganisation zu den Jahrestagen der beiden größten Atomunfälle der Menschheitsgeschichte versucht, alle vorhandenen Daten zusammenzufassen. Und da potenziert sich das Problem: Jede Studie untersucht entweder einen sehr engen Zeitraum und/oder nur eine bestimmte Gruppe von Menschen auf einem mehr oder weniger begrenzten Gebiet. Anschlussstudien mit den selben Personen in derselben Gegend gibt es kaum. Dazu kommen die unterschiedlichen Interessenlagen: Je nach Quelle schwankt etwa die Zahl der nach Tschernobyl zu erwartenden Krebstoten zwischen rund 10 000 (Internationale Atomenergie-Organisa- tion) und rund 460 000 (Deutsche Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit).
So kann man nur versuchen, aus den vorliegenden Daten das Wahrscheinlichste herauszunehmen und es nötigenfalls auf andere Gebiete mit ähnlicher Strahlenbelastung von Boden, Luft und Nahrung hochzurechnen. Bayern etwa – das außerhalb der Sowjetunion eine der höchsten Strahlenbelastungen durch Tschernobyl aufweist – sei sehr gut untersucht, sagt Hagen Scherb vom Helmholtz-Zentrum München. Laut dem Biomathematiker, der sich vor allem mit genetischen Folgen von Strahlung beschäftigt, werden in Bayern seit dem GAU jedes Jahr rund 500 fehlgebildete Kinder zusätzlich geboren, in Weißrussland trete das Down-Syndrom doppelt so oft auf wie vor 1986.
Für Fukushima zeichne sich eine ähnliche Entwicklung bei Fehl- und Totgeburten ab, so Scherb. Deshalb hält es die IPPNW auch für »unseriös und unwissenschaftlich«, dass die Internationale Atomenergie-Organisation und der UNO-Ausschuss zur Untersuchung von Strahlenauswirkungen bereits abschließende Aussagen zum Atomunglück träfen. Glaube man diesen, gebe es keine »relevanten« oder »messbaren« Strahlenfolgen.
Dabei zeigen auch die offiziellen Daten einen deutlichen Anstieg der Schilddrüsenkrebsrate bei Kindern: 115 Kinder mussten seit 2011 wegen Schilddrüsentumoren operiert werden, bei 50 steht ein Verdacht im Raum. Bei den rund 300 000 untersuchten Kindern der Präfektur Fukushima dürfte statistisch nur ein solcher Krebsfall pro Jahr auftreten.
Einen Zusammenhang zwischen hohen Strahlendosen und kurz danach auftretenden Erkrankungen können Wissenschaftler noch relativ einfach nachweisen. Anders sieht es bei niedrigen Dosen über lange Zeiträume aus: So ist die durchschnittliche Lebenserwartung in den damals stark belasteten Gebieten deutlich gesunken – allerdings auch in benachbarten Gegenden. Es ist unklar, welchen Anteil schlechtere Lebensbedingungen nach dem Ende der Sowjetunion, ungesunde Lebensweise, Stress oder Süchte daran haben. Hinzu kommen Strahlenbelastungen durch Flüge, Röntgen oder die natürliche Hintergrundstrahlung, die sich regional teils deutlich unterscheidet. Klar ist nur, dass die Akten Tschernobyl und Fukushima noch lange nicht geschlossen werden dürfen.