Mit Geigerzähler und Gänsehaut
Bei Valentina und Alexander Kowalenko in der Geisterstadt Tschornobyl – Einsamkeit und acht Millisievert
30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe ist das Gebiet um Tschernobyl noch immer Sperrzone. Doch alljährlich erkunden 8000 Touristen das Areal. Veranstalter werben für ein unvergessliches Erlebnis.
Gut 100 Kilometer nördlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew, kurz vor der Grenze zu Belarus. Vor uns taucht im Schneegriesel ein Schlagbaum auf; Schilder warnen vor radioaktiver Strahlung. Die 30-Kilometer-Zone. Milizionäre vergleichen unsere Pässe mit Genehmigungen. Ein Mann in Tarnfleckjacke und mit Geigerzähler steigt in unseren Kleintransporter: Jewgen Gonscharenko. Er wird uns führen.
Der Schlagbaum öffnet sich, vor uns liegen Wald und Straße. 20 Minuten fahren wir, dann sind wir am Ortseingang von Tschernobyl, das im Ukrainischen Tschornobyl heißt. »Tschornobyl ist eine alte Stadt«, erzählt uns Jewgen. »Sie wurde 1193 zum ersten Mal erwähnt. Es ist eine der ältesten Städte der Ukraine.« Wir erfahren, dass 40 000 Menschen hier wohnten. Bis zur Katastrophe im April 1986. Seitdem lebt hier kaum noch jemand: Nur etwa 2000 Arbeiter auf Zeit und rund 40 Siedler, die sich selbst versorgen. Den Namen des Ortes kennt man jetzt auf der ganzen Welt.
An unseren Fenstern huschen verwaiste Häuschen vorbei. Aus scheibenlosen Fenstern recken sich kahle Äste, an windschiefen Holzwänden ranken Büsche empor. Eine Geisterstadt, die von der Natur zurückerobert wird. Still ist es hier, nicht einmal Vogelgezwitscher ist zu hören. Rund um den Ort fühlen sich sogar Wölfe wohl und einige Przewalskipferde.
Wir halten an einem Kindergarten. Mit vorsichtigen Schritten passieren wir ein Heldendenkmal und zerbrochene Lattenzäune. Zwischen kahlen Bäumen ragt ein blauer LkwReifen aus der Erde, daneben steht das Gerüst einer einsamen Schaukel. Auf einem Schränkchen am Eingang sitzen eine verstaubte Puppe und ein Teddy wie ein Empfangskomitee. Wessen Liebling war der Teddy? Was wurde aus dem Kind, das mit der Puppe spielte? Wo sind die Mädchen und Jungen von damals heute?
30 Jahre steht das Haus leer. Ein merkwürdiges Gefühl, über die alten Dielen zu gehen. Unsere Füße hinterlassen Spuren im Staub. In einem Zimmer stehen Doppelstockbetten. Die Fenster sind kaputt. Kein Ort, an dem man verweilen möchte.
Tschornobyl liegt 18 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt. Dort sitzt die Kommandantur, wo wir die Gebühren bezahlen, das Blatt mit Verhaltensmaßregeln unterschreiben und Oleksandr Sirotad treffen. Er war neun Jahre alt, als sich das Unglück ereignete. Heute ist er Journalist, und er zeigt Fremden die 30-KilometerZone.
Damals habe er nicht verstanden, was passiert sei, erzählt er. Plötzlich mussten alle ihre Häuser verlassen. Panik sei ausgebrochen, Menschen rannten mit Kartons umher. Viel mit- nehmen konnten sie nicht. Ein paar Dokumente, eine Handvoll persönlicher Dinge. Auf einem Tablet zeigt uns Oleksandr Fotos und Filme aus der Zeit vor dem GAU. Fröhliche Kinder auf einem Schulhof. Oleksandr mit Neun. Wo seine Klassenkameraden heute stecken, weiß er nicht. Sie haben sich aus den Augen verloren.
In Tschornobyl wohnen auch Menschen. Manche sind einfach geblieben, andere zurückgekehrt. So wie Valentina und Alexander Kowalenko, Mutter und Sohn. Die beiden wohnen in einem einfachen Holzhaus. Ein Hund meldet bellend die Besucher. Wir dürfen eintreten.
Valentina leitete einst das Kulturhaus in Pripjat. Heute ist sie 77 und Rentnerin. Sie erzählt von der Katastrophe. Wussten sie, was geschah?
»Nein«, schimpft Alexander. »Das war die Sowjetunion! Sie sagten, al- les sei in Ordnung. Aber wir haben die Wolke über dem Kraftwerk gesehen!« Erst zwei Tage später mussten sie weg. Und dann musste alles ganz schnell gehen.
Noch 1986 kehrten die Kowalenkos zurück. »Ich konnte nicht in Kiew leben«, erzählt Valentina. »Ich bin krank geworden, hier ist mein Zuhause.« Angst vor der Strahlung habe sie nicht. »Wir sehen alles, wir hören alles, wir wissen alles. Warum sollten wir Angst haben?«
Vom ersten Tag an haben sie alles gegessen, was in ihrem Garten wächst. Bis heute. Nein, krank sei sie nicht, erzählt sie. Bis auf die normalen Wehwehchen, die man in diesem Alter hat. Zucker mache ihr zu schaffen und vor allem die Einsamkeit. Valentina und Alexander haben nur selten Besuch. Das sei das Schlimmste, sagt Valentina und wischt sich Trä- nen aus den Augen. Aber immerhin gebe es eine Post und einen Laden. Der Hund bellt nicht, als wir hinausgehen. Hinter uns fällt die wacklige Hoftür ins Schloss.
Als das Ortsschild von Pripjat auftaucht, erzählt uns Jewgen, dass dort das am stärksten verstrahlte Gebiet sei. »Der rote Wald«, zeigt er mit ausladender Armbewegung. »Hier ging die größte radioaktive Wolke nieder. Später starb alles ab und färbte sich rot.« Mein Blick folgt seiner Armbewegung. Nichts ist mehr zu sehen. Pflanzen haben den Platz wieder erobert. Doch der Geigerzähler piepst wild. Eine Acht steht vor dem Komma. Acht Millisievert.
Als wir über einen Feldweg mit verwilderten Bäumen und Sträuchern links und rechts fahren, erzählt uns Jewgen, dass dies die Hauptstraße von Pripjat war. Und tatsächlich: Hinter den Bäumen sehen wir Hochhäuser. Wir entdecken eine zweite Fahrspur und Lichtmasten. Pripjat war eine junge Stadt, 1970 gegründet als Satellitenstadt für das Kernkraftwerk. Ihre Bewohner waren im Schnitt 26 Jahre alt, viele Kinder. 50 000 Menschen wohnten hier. Sie alle mussten am 27. April ihr Zuhause verlassen, denn Pripjat ist nur drei Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt.
Heute ist es eine Ruinenstadt. Hotels, das Kulturhaus, in dem Valentina Direktorin war, Wohnhäuser. In einer Schule liegen Gasmasken auf dem Boden, Schulhefte und Bücher sind zum Teil aufgeschlagen. »Es lebe die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken« lesen wir auf Russisch auf einer aufgeschlagenen Seite eines Schulbuches. Hier ist die Zeit stehen geblieben, eingefroren von einer radioaktiven Wolke.
Nur etwas weiter stehen wir in dem Vergnügungspark, der damals kurz vor seiner Eröffnung stand. Das Riesenrad, mit dem nie jemand gefahren, das aber oft fotografiert worden ist. Davor liegt die Gondel einer Schaukel. Die brüchigen Sitze eines Karussells sind von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Die Gefährte des Autoscooters rosten stumm vor sich hin.
Jewgen lotst das Auto weiter, und plötzlich steht vor uns im Nebel der Reaktor. Reaktor 4, wie man ihn von vielen Fotos kennt. Gespenstisch wirkt er, unwirklich. Hier also ereignete sich am frühen Morgen des 26. April 1986 die Katastrophe.
Jewgens Geigerzähler piepst. Die Strahlung ist in der Nähe des Reaktors höher. Zwei Millisievert. »Zwei Millisievert«, referiert Jewgen und winkt ab. »Das ist die Strahlung, die man sonst in einem Jahr aufnimmt oder bei einem Langstreckenflug. An den meisten Stellen in der Sperrzone messen wir weniger als ein Millisievert.«
Als der Reaktor damals explodierte, wurde in nur zehn Tagen 500 Mal mehr radioaktive Strahlung freigesetzt als nach dem Abwurf der Hiroshimabombe. Für uns ist der Schneefall gut. Er bedeckt den radioaktiven Staub am Boden. Trotzdem gehört Tschernobyl zu den gefährlichsten Orten der Welt.
Eine Kolonne Arbeiter in blauen Kombis geht in Richtung Betriebsgelände. »Ein Freund von mir arbeitet direkt am Reaktor«, erzählt Jewgen. »Er darf nur 15 Minuten am Tag dort sein.« 2000 wurde mit Block 3 der letzte Reaktor abgeschaltet. Doch die radioaktiven Stoffe in der Ruine strahlen weiter, noch viele Jahre.
Neben dem Reaktor entsteht der neue Sarkophag, über 100 Meter hoch, 29 000 Tonnen schwer, 1,5 Milliarden Euro teuer. 1200 Menschen arbeiten daran. »Sie kommen von überall her, auch aus Deutschland«, weiß Jewgen.
200 Tonnen geschmolzene Kernbrennstoffe und Massen radioaktiven Staubs soll der Sarkophag umhüllen. Die Lösung ist umstritten. Den Austritt von Staub mag er verhindern. Boden und Grundwasser schützt er nicht.
Und dann wollen wir nur noch weg. Tschornobyl ist unheimlich. Es ist ein gefährlicher Ort.