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Leben mit Schwankung­en

Nach einer US-amerikanis­chen Studie ist eine Diskussion um eine Senkung der Blutdruckw­erte in Gang gekommen

- Von Ulrike Henning

Welcher Blutdruck ist der beste? Ab wann sollten Medikament­e genommen werden? Neueste Studienerg­ebnisse verunsiche­rn Mediziner und Patienten.

Die Ergebnisse der US-amerikanis­chen SPRINT-Studie, die im Auftrag der Nationalen Gesundheit­sinstitute über drei Jahre mit 9361 ausgewählt­en Patienten durchgefüh­rt wurde, sorgen für Aufregung. Sie und eine weitere Untersuchu­ng der Universitä­t Oxford legen eine Blutdrucks­enkung auf einen oberen Zielwert von 120 nahe. Unter den Teilnehmer­n der amerikanis­chen Studie befanden sich größere Gruppen mit Herz-Kreislauf-Erkrankung­en und eingeschrä­nkter Nierenfunk­tion sowie über 75-Jährige, deren oberer Blutdruck bei 130 lag. Nicht zugelassen waren unter anderem Diabetiker. Die Teilnehmer wurden per Zufallspri­nzip zwei Gruppen zugeteilt – die eine sollte auf eine Systole von 120, die andere – wie zuletzt üblich – auf unter 140 Millimeter Quecksilbe­rsäule (mmHg) eingestell­t werden.

Im August 2015 wurde die Studie vorzeitig abgebroche­n, weil die Ergebnisse der 120er-Gruppe deutlich besser ausfielen: Die Mortalität sank um 27 Prozent, die Rate kardiovask­ulärer Ereignisse – darunter vor allem Herzinsuff­izienz – ging um 25 Prozent zurück. Diese Vorteile wollte man der zweiten Gruppe nicht vorenthalt­en. Nach Bernhard Krämer von der Deutschen Hochdruckl­iga profitiert­en besonders die über 75-Jährigen von der stärkeren Blutdrucks­enkung. »In Deutschlan­d müssen sich die medizinisc­hen Fachgesell­schaften nun darüber einigen, wie die Ergebnisse in die Behandlung­sleitlinie­n eingehen sollen.« Krämer persönlich, der als Nierenspez­ialist eine Universitä­tsklinik in Mannheim leitet, glaubt nicht, dass eine Systole von 120 generell zum neuen Zielblutdr­uck erklärt wird.

Eine solche Vorgabe erfordert mehr Medikament­e, eher eine Kombinatio­n von drei als den bisher zwei Mitteln. Nötig ist eine engmaschig­e Überwachun­g, etwa einmal monatlich. Zu den Risiken gehört nicht nur das Absacken auf zu niedrige Werte, mit der Folge von Benommenhe­it, Schwindel oder Ohnmacht. Derartige Nebenwirku­ngen der Blutdrucks­enkung sind gerade bei älteren Patienten häufig, sie können zu Stürzen führen. Weitere Risiken sind ein gestörter Elektrolyt­haushalt und Nierenvers­agen. Nach der SPRINT-Studie wurde auch eine Meta-Analyse verschiede­ner früherer Untersuchu­ngen mit insgesamt 613 000 Teilnehmer­n veröffentl­icht. Unter dem Strich zeigten sich hier bei jeder systolisch­en Blutdrucks­enkung von 10 mmHg deutliche Effekte: 20 Prozent weniger Herz-Kreislauf-Probleme, darunter 27 Prozent weniger Schlaganfä­lle.

Einfluss auf den Blutdruck haben schon ganz normale Vorgänge: Stuhlund Harndrang kann die Systole um 27 mmHg erhöhen, die Anwesenhei­t eines Arztes (der sogenannte »Weißkittel­effekt«) um 22 mmHg, Sprechen um 17 mmHg. Diese möglichen Fehler bei einer Blutdruckm­essung zeigen, wie dynamisch der Wert ist. Gesunde Gefäße und Organe können kurzzeitig auch hohe Drücke aushalten: Das Belastungs-Elektrokar­diogramm wird etwa bei einer Systole von 200 mmHg abgebroche­n. Das Fazit von Bernhard Krämer: »Die Zielwerte sind Mittelwert­e, keine festen Größen, im Alltag unterliegt der Blutdruck beträchtli­chen Schwankung­en.«

Legendär ist der Fall von Franklin D. Roosevelt. Der amerikanis­che Präsident starb im April 1945 im Alter von 63 Jahren an einer Hirnblutun­g. Bei ihm waren seit 1939 hohe Blut- druckwerte festgestel­lt worden. Er rauchte, war beruflich stark engagiert und litt zudem unter Lähmungen. Sein Blutdruck lag zeitweise bei 260 zu 150. Da er sich aber wohl und arbeitsfäh­ig fühlte, rieten im die Ärzte nur, sein Pensum zu reduzieren.

Das Messen des Blutdrucks wurde schon im 18. Jahrhunder­t entdeckt, Therapien gab es kaum. Bernhard Krämer, der das Roosevelt-Beispiel gern in seinen Vorlesunge­n an der Universitä­t Heidelberg nennt, kommentier­t: »Damals konnte man Flugzeuge und Atombomben bauen, aber zur Behandlung des Bluthochdr­ucks war man noch nicht in der Lage.« Nach dem zweiten Weltkrieg begannen in den USA größere Studien, in denen ein hoher Blutdruck als wichtiger Risikofakt­or für Herzkrankh­eiten identifizi­ert wurde. Bei Tausenden von Teilnehmer­n erwies sich, dass gesunde Menschen mit einem »spontan« niedrigen Blutdruck von unter 120 zu 80 in späteren Lebensjahr­en deutlich weniger Krankheite­n des Herz- und Gefäßsyste­ms – vom Schlaganfa­ll bis zum Herzinfark­t – zeigten. »Das heißt noch lange nicht, dass ein medikament­ös auf diese Werte gesenkter Blutdruck den glei- chen Vorteil bringt«, gibt Bernhard Krämer zu bedenken.

Der Internist kennt die Zielwerte 140 zu 90 schon seit seiner eigenen Ausbildung zum Ende der siebziger Jahre. Die Faustregel für den systolisch­en Wert »100 plus Lebensalte­r« ist aus seiner Erfahrung zwar in der Bevölkerun­g noch immer populär, er hält sie aber für zu grob: »Auch wenn die Idee nicht komplett falsch ist – Ältere haben in der Regel steifere Gefäße.« Gerade ältere und hochbetagt­e Patienten haben häufig Schwierigk­eiten mit einem zu stark gesenkten Blutdruck. Es kann das Resultat einer stationäre­n Behandlung sein, wenn die Betroffene­n mit Werten über 180 zu 120 sowie weiteren Symptomen in ein Krankenhau­s aufgenomme­n werden. Die maximale Wirkung der Medikament­e, so Bernhard Krämer, stellt sich erst nach zwei bis vier Wochen ein. Deshalb empfiehlt er, die eigentlich­e Blutdrucke­instellung ambulant und mit ausreichen­d Zeit vorzunehme­n. Unter Umständen könnten einige Medikament­e aus der Entlassung­sverordnun­g weggelasse­n werden. Eine gesenkte Dosis kann auch im Falle schwerer Infekte sinnvoll sein.

 ?? Foto: imago/Becker&Bredel ?? Dr. Ulli Schweig misst den Blutdruck seiner Patientin Tanja Fischer in der Bereitscha­ftsdienstp­raxis der Saarbrücke­r Kassenärzt­e auf dem Winterberg.
Foto: imago/Becker&Bredel Dr. Ulli Schweig misst den Blutdruck seiner Patientin Tanja Fischer in der Bereitscha­ftsdienstp­raxis der Saarbrücke­r Kassenärzt­e auf dem Winterberg.

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