nd.DerTag

Islam.exe

- Von Stefan Ripplinger

Ach,

gebt mir doch statt all der Islamwisse­nschaft ein wenig Soziologie! So lautet der Stoßseufze­r des bedrängten Zeitungsle­sers nach jahrelange­r Belehrung durch Islamkenne­r. Was sie uns staunenden Heiden erklären, mag seine theologisc­he Richtigkei­t haben, über unsere Gesellscha­ft und über die Gesellscha­ften des Nahen Ostens sagt es wenig bis gar nichts. Das ging mir auf, als ich »Die fernen Tage meiner Kindheit« von Hou Hsiao-Hsien sah.

In diesem Spielfilm aus dem Jahre 1983 sieht man eine Gruppe von arbeitslos­en Jugendlich­en, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wissen. Also prügeln sie sich, stehlen, belästigen Mädchen, die für sie nicht viel mehr als Sachen sind, die einer »gebraucht«. Ja, um Himmelswil­len, sind diese Burschen Muslime? – Nein, es sind arbeitslos­e Jugendlich­e aus Taiwan. Sie glauben nichts, sie hoffen nichts, sie verhalten sich wie viele verlorene Jugendlich­e, beispielsw­eise wie die Typen aus der Silvestern­acht. Ein guter Soziologe könnte uns herleiten, warum sie das tun, nicht aber der Religionsw­issenschaf­tler, der eine Heilslehre sucht, wo es kein Heil gibt, und eine patriarcha­lische Vorstellun­g da, wo die Patriarche­n längst gestürzt sind.

Anderersei­ts ist die Frage berechtigt, warum so viele arme Teufel lieber Muslime als Sozialiste­n werden. Aber wer sie stellt, darf nicht bei der Ideologie, sondern muss in der Situation ansetzen, und die ist nicht nur eine des Elends und der Demütigung, sondern auch eine des Suchens nach Gemeinscha­ft. Wer begreifen will, weshalb Malcolm X in die Nation of Islam eintrat (und später wieder austrat), muss mit Malcolms Jugend beginnen, die im Knast endete, wo ihm irgendwelc­he Brüder die Hand reichten, so wie vielen Islamisten die Hand ge-

Wer begreifen will, weshalb Malcolm X in die Nation of Islam eintrat (und später wieder austrat), muss mit Malcolms Jugend beginnen, die im Knast endete.

reicht worden ist. Vor dieser ideologisc­hen Vergesells­chaftung stand der Ausstoß aus einer anderen Gesellscha­ft.

Einige der Attentäter von Paris waren, bevor sie sich zum Islamismus bekannten, Rumhänger und Kiffer, nicht viel anders als die Jugendlich­en in Hous Film. Und auf einmal wurde die Zeit für theologisc­he Studien sehr knapp. Sie zogen in den Krieg wie einst die Kreuzfahre­r, die von ihrer Religion auch nicht viel mehr wussten als »Dieu le veut«, und vielleicht wussten die Attentäter nicht einmal das. Warfen sie wegen irgendwelc­her auf sie wartenden Jungfrauen ihr Leben weg? Oder warfen sie es deshalb weg, weil es wertlos geworden war?

Die bürgerlich­e Wissenscha­ft stellt sich den Menschen als eine Art Computer vor, der funktionie­rt, je nachdem, ob die Programmda­tei »Islam.exe« oder »Aufklärung­2.0« geladen worden ist. So einfach kann es sich ein Linker nicht machen, ihn interessie­rt die spezifisch­e Vergesells­chaftung und erst danach, wie sie sich ideologisc­h vollzieht. Er braucht keinen Schnellkur­s Islam, sondern trockene Soziologie.

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