Islam.exe
Ach,
gebt mir doch statt all der Islamwissenschaft ein wenig Soziologie! So lautet der Stoßseufzer des bedrängten Zeitungslesers nach jahrelanger Belehrung durch Islamkenner. Was sie uns staunenden Heiden erklären, mag seine theologische Richtigkeit haben, über unsere Gesellschaft und über die Gesellschaften des Nahen Ostens sagt es wenig bis gar nichts. Das ging mir auf, als ich »Die fernen Tage meiner Kindheit« von Hou Hsiao-Hsien sah.
In diesem Spielfilm aus dem Jahre 1983 sieht man eine Gruppe von arbeitslosen Jugendlichen, die mit ihrer Zeit nichts anzufangen wissen. Also prügeln sie sich, stehlen, belästigen Mädchen, die für sie nicht viel mehr als Sachen sind, die einer »gebraucht«. Ja, um Himmelswillen, sind diese Burschen Muslime? – Nein, es sind arbeitslose Jugendliche aus Taiwan. Sie glauben nichts, sie hoffen nichts, sie verhalten sich wie viele verlorene Jugendliche, beispielsweise wie die Typen aus der Silvesternacht. Ein guter Soziologe könnte uns herleiten, warum sie das tun, nicht aber der Religionswissenschaftler, der eine Heilslehre sucht, wo es kein Heil gibt, und eine patriarchalische Vorstellung da, wo die Patriarchen längst gestürzt sind.
Andererseits ist die Frage berechtigt, warum so viele arme Teufel lieber Muslime als Sozialisten werden. Aber wer sie stellt, darf nicht bei der Ideologie, sondern muss in der Situation ansetzen, und die ist nicht nur eine des Elends und der Demütigung, sondern auch eine des Suchens nach Gemeinschaft. Wer begreifen will, weshalb Malcolm X in die Nation of Islam eintrat (und später wieder austrat), muss mit Malcolms Jugend beginnen, die im Knast endete, wo ihm irgendwelche Brüder die Hand reichten, so wie vielen Islamisten die Hand ge-
Wer begreifen will, weshalb Malcolm X in die Nation of Islam eintrat (und später wieder austrat), muss mit Malcolms Jugend beginnen, die im Knast endete.
reicht worden ist. Vor dieser ideologischen Vergesellschaftung stand der Ausstoß aus einer anderen Gesellschaft.
Einige der Attentäter von Paris waren, bevor sie sich zum Islamismus bekannten, Rumhänger und Kiffer, nicht viel anders als die Jugendlichen in Hous Film. Und auf einmal wurde die Zeit für theologische Studien sehr knapp. Sie zogen in den Krieg wie einst die Kreuzfahrer, die von ihrer Religion auch nicht viel mehr wussten als »Dieu le veut«, und vielleicht wussten die Attentäter nicht einmal das. Warfen sie wegen irgendwelcher auf sie wartenden Jungfrauen ihr Leben weg? Oder warfen sie es deshalb weg, weil es wertlos geworden war?
Die bürgerliche Wissenschaft stellt sich den Menschen als eine Art Computer vor, der funktioniert, je nachdem, ob die Programmdatei »Islam.exe« oder »Aufklärung2.0« geladen worden ist. So einfach kann es sich ein Linker nicht machen, ihn interessiert die spezifische Vergesellschaftung und erst danach, wie sie sich ideologisch vollzieht. Er braucht keinen Schnellkurs Islam, sondern trockene Soziologie.