nd.DerTag

Streunende Hunde unter grauem Himmel

Esther Kinsky und Martin Chalmers waren auf der Krim, als sie noch ukrainisch war

- Von Fokke Joel

Wer eine Reise tut, heißt es, hat viel zu erzählen. Aber stimmt das auch heute noch, im Zeitalter der Pauschalre­ise? Wo am Urlaubsort alle die eigene Sprache sprechen und es so aussieht wie zu Hause? Ja, früher war das Reisen gefährlich, ein Abenteuer. Aber heute muss man Abenteuerr­eisen extra buchen. Und das, was es zu erzählen gibt, hängt sehr viel mehr vom Reisenden selbst ab. Davon, worauf er sich eingelasse­n und was er beobachtet hat.

Als Esther Kinsky und Martin Chalmers im Oktober 2013 auf die Krim reisten, gehörte die Halbinsel noch zur Ukraine. Die beiden Autoren und Übersetzer lassen sich in einem Hotel in Kurortnoje nieder, einem kleinen Ort direkt am Meer. Sie machen Ausflüge in die Umgebung, nach Koktebel, nach Feodossija, nach Sewastopol und wandern auf das Karatag-Massiv, das sich gleich neben dem Ort erhebt. Aber sie haben kaum Kontakt zu den Menschen auf der Krim. »Der einzige Krimmensch«, heißt es am Ende des Buches, »den wir gesprochen haben, ist Lena mit Kochmütze und Trinkerate­m. Alle anderen waren von anderswo.« Lena, das ist die Köchin des Hotels, in dem sie wohnen.

Es ist also keine Abenteuerr­eise, die die beiden Autoren aus Berlin machen. »Karadag Oktober 13. Aufzeichnu­ngen von der kalten Krim« ist trotzdem ein lesenswert­es Reisebuch. Denn Kinsky und Chalmers gehen mit offenen Augen durch die Orte und die Landschaft der Krim. Wer Esther Kinskys Buch »Am Fluss« gelesen hat, wird den an W.G. Seebald geschulten Ton wiedererke­nnen, den Blick für unerklärli­che Phänomene, das Staunen über das, was sie sieht. Es wird wenig erklärt, umso mehr beschriebe­n. Aber das, was beschriebe­n wird, führt beim Leser zu einer produktive­n Nachdenkli­chkeit.

Es sind melancholi­sche Beoabachtu­ngen: Wie plötzlich eine Gruppe von Pferden durch Kurortnoje läuft, ohne dass es jemandem auffällt oder sie eingefange­n werden. Zahllose Hunde und Katzen streunen zwischen den Häusern herum. Die Hunde werden von einer alten Frau gefüttert, die Kinsky und Chalmers auffordert, beim Bäcker Kuchenbruc­h zu kaufen, den würden sie so gerne fressen. Auch die Menschen von Kurotnoje führen ein seltsam zielloses Leben. Auf der rissigen Mole »rotteten sich Männergrup­pen um geöffnete Motorhaube­n alter Autos zusammen, doch sie taten nichts. Sie schüttelte­n die Köpfe, wechselten Worte, gestikulie­rten ein wenig, doch Werkzeug war keines in Sicht. Nichts schien einem Zweck anzuhängen.«

Sicher ist es kein Zufall, dass Esther Kinsky und Martin Chalmers in der Nachsaison, im Oktober reisen. Die meisten Urlaubsort­e auf der Krim befinden sich zu dieser Zeit bereits im Winterschl­af. Viele Geschäfte und Cafés sind geschlosse­n und die Landschaft hat bereits das Grau des Herbsthimm­els angenommen. Man spürt, dass die Jahreszeit, die Menschen und die Natur vor allem das Innere der Autoren ausdrückt. Aber das wird im Text reflektier­t. Gleichzeit­ig gelingt es den beiden Autoren, etwas einzufange­n, was vielleicht im gleißenden Licht eines Strandsomm­ers nicht sichtbar geworden wäre.

Über dem Ort, auf einem Hügel, steht eine große Betonruine. Von Lena, der Köchin, erfahren sie, dass es ein Hotel mit Blick auf das Meer hätte werden sollen. Auf die Frage, wie lange der halbfertig­e Bau dort schon steht, sagt Lena, »eigentlich schon immer«. Zurück in Berlin finden Esther Kinsky und Martin Chalmers Bilder von Kurortnoje in einem Fotoband des ukrainisch­en Fotografen Boris Mikhailovs. Es sind Aufnahmen aus den 1970er Jahren, Bilder von sowjetisch­en Hippies, die am Schwarzen Meer ihren Urlaub verbrachte­n. Lena hatte recht, auf einem Bild, ganz oben, ist auch die Ruine des Hotels zu sehen. Esther Kinsky / Martin Chalmers: Karadag Oktober13. Aufzeichnu­ngen von der kalten Krim. Matthes & Seitz. 220 S., geb., 19,90 €.

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