Das totale Spiel der Masken
Sergej Lebedew: »Menschen im August« zeigt Russland nach dem Ende der UdSSR
Irgendwo bei Tichwin (216 Kilometer östlich von Sankt Petersburg) hatte ein Kleinbus mit Agitationsmaterial mehrere Autos gerammt und sich überschlagen. Über hundert Meter war die Chaussee von Jelzin-Plakaten übersät, und da ein starker Seitenwind blies, flatterten sie aufs Feld, hingen in den Bäumen. »Tausende von Jelzin-Gesichtern, faltig oder geglättet, stiegen in den Himmel auf.« Der Fahrer eines Wolgas, den der Kleinbus, bevor er einen Lastwagen streifte, seitlich gerammt hatte, »wischte sich Blut vom Gesicht, besah einen zerbeulten Kühlschrank, der vom Autodach gefallen war, ging weiter und spuckte in jedes Jelzin-Gesicht auf jedem Plakat, die Spucke war ihm bereits ausgegangen, er strengte sich an und spuckte nach einem Räuspern erneut.« – Kann man solche Szenen erfinden? In diesem Roman gibt es viele dieser Art. Sergej Lebedew hat die Gabe zu Situationsbeschreibungen, die in Erinnerung bleiben. Und ein wenig geht es ihm womöglich auch wie dem Mann, der da spuckt.
Es ist erst sein zweiter Roman auf Deutsch. Vorher war er Journalist, aber es spielt auch eine Rolle, dass er aus einer Geologenfamilie stammt und schon als Kind in alten Minen nach Mineralien suchte, um sein Ta- schengeld aufzubessern. Er ist 1981 geboren, also jünger als der Mann, von dem er hier erzählt. Aber das ist auch ein »Sucher«, was den Roman so spannend macht.
Am Anfang glaubt man, dass es ihm nur um seinen Großvater ginge, von dem die Großmutter lediglich eine Legende erzählte. Wie sie ein Heft mit »Erinnerungen« im Zimmer des Enkels deponierte, der bei der Lektüre feststellte, dass da eine innere Zensur gewaltet haben musste, wie er später im Bücherschrank ihr Tagebuch entdeckte, sorgsam verborgen in einem Einband von Konstantin Simonows Gedichten –, das erste Kapitel gehört dieser geheimnisvollen Familiengeschichte. Am Schluss, so viel sei verraten, kehrt der Autor noch einmal dorthin zurück.
Es geht ihm um die Wurzeln der heutigen Probleme (insofern hat der Roman auch einen journalistischen Ansatz). In der Beschreibung von Reisen zeigt sich der Geologe. Denn schon ab dem zweiten Kapitel ist der Ich-Erzähler durchaus nicht nur mit dem Großvater beschäftigt. In den Wirren der 1990er Jahre fährt er mit einer Bestattungsurne und gefälschten Papieren nach Polen, um für irgendwelche Auftraggeber Schmuggelwege nach Westen zu erkunden. Für Diamanten aus Jakutien? Egal, er gerät in Abenteuer und seltsame Situationen. Mystisch wird es, als er im Morgennebel auf einem Friedhof im ukrainischen Drogobytsch eine alte Frau sieht, die Kräuter sammelt. Auf dem Markt trifft er sie wieder und hört einen Satz, der sein weiteres Leben bestimmt: »Such keine Lebenden, such Tote.«
Da wird der Roman zum Thriller. Wie durch Schicksalsfügung trifft der Ich-Erzähler in Drogobytsch einen alten Mann, der gute Bezahlung bietet, wenn unser Abenteurer nur das Grab seines Vaters fände und Erde davon mitbringen würde. Also auf nach Kasachstan. Im einstigen KGB-Archiv kauft er die entsprechende Akte, und in der Hungersteppe Betpak-Dala erlebt er das »Jenseits der UdSSR«.
Wild-Ost mit Gaunern und einstigen Militärs, die womöglich ebensolche Banditen sind, die ihn retten und engagieren, um herauszufinden, warum in Karelien der Strom des Schwarzgeldes für Jelzin versiegt. Wundert es uns jetzt noch, dass ein einstiges Gulag-Lager inzwischen privat betrieben wird? Im Laufe der Lektüre wird man sich über gar nichts mehr wundern.
Die Staatsmacht hatte sich zu jener Zeit in die großen Städte zurückgezogen. Im weiten Land herrschten Resignation und Gesetzlosigkeit. »Diese Ebene war herrenlos.« Man versteht, warum sich viele nach einem starken Staat sehnten – so war es ja auch schon nach den Wir- ren des Bürgerkriegs gewesen. Aber das bedeutet für den Ich-Erzähler bald den Zusammenstoß mit einer durchorganisierten Macht. Wie soll er sich davor retten, für undurchschaubare Interessen benutzt zu werden? Er wird zum Verräter, auch wenn er sich das selbst nicht eingestehen will …
»Und auf einmal erfasste ich die Energetik der Doppel- und Dreifachexistenzen, das totale Spiel der Masken … Es existierte keine Vereinzelung von Staat und Terroristen, alle hingen im Verborgenen miteinander zusammen …« Der Großvater und der Enkel, so versteht man, sind eigentlich aus dem gleichen Holz geschnitzt. Oder waren es nur die Umstände, die sie so werden ließen? Aber wenn selbst Großmutter Tanja mit ihrer adligen Erziehung … Und was weiß er, wer seine Geliebte Anna wirklich ist?
Wobei der Ich-Erzähler durchaus genussvoll mit seinen intuitiven Fähigkeiten spielt, eine »Strahlung« empfangen, eine Atmosphäre erspüren zu können. Steckt in dem Buch vielleicht noch eine Mystifikation? Der Titel bezieht sich ja auf den Augustputsch 1991, als eine Gruppe von Funktionären sich den Reformen Gorbatschows in den Weg stellen wollte, aber letztlich den Zerfall der UdSSR nur beschleunigte. Gorbatschow wurde von Jelzin verdrängt. Die KPdSU wurde verboten. Mit seiner rigorosen Politik der Privatisierung sorgte Jelzin dafür, dass aus Teilen der einstigen Nomenklatura eine Oligarchie entstand, die mit Schwarzmarktunternehmern und Kriminellen unlösbare Verbindungen einging. Im August 1998 war Russland zahlungsunfähig, Ende 1999 erklärte Jelzin seinen Rücktritt und übergab die Regierungsgeschäfte an Präsident Putin, der dem Ausverkauf von Staatseigentum Schranken setzte.
»Menschen im August«: Dass Sergej Lebedew sich für die brisanten Hintergründe dieses Umsturzes interessiert, ist aus einem Aufsatz zu ersehen, den er auf einer russisch-orthodoxen Webseite veröffentlicht hat. Vorliegender Roman indes nimmt den August 1990 lediglich als Ausgangspunkt dessen, was der IchErzähler kurzzeitig als Befreiung, dann aber zunehmend als ausweglosen desolaten Gesellschaftszustand erlebt. Aber immerhin ruft der Titel Vorgänge ins Gedächtnis, die damals an einem vorüberrauschten. Das könnte sogar beabsichtigt sein. Fand der Ich-Erzähler das geheime Tagebuch seiner Großmutter nicht auch in einem vermeintlichen Simonow-Band? Oder habe ich zu viele Krimis gelesen? Sergej Lebedew: Menschen im August. Roman. S. Fischer Verlag. 366 S., geb., 22,99 €.