nd.DerTag

Mut statt »German Angst«

- Bodo Ramelow über einen Kreislauf der Furcht in der westlichen Welt – ein Plädoyer für eine umfassende Altfallreg­elung

Die »German Angst« ist zurück. Die gesamte westliche Welt ist in einem Angstkreis­lauf gefangen. Kriege haben Millionen zur Flucht gezwungen und eine riesige Völkerwand­erung in Gang gesetzt. Vor einem halben Jahr schauten wir noch entsetzt nach Ungarn, wo Viktor Orban sehenden Auges eine humanitäre Notlage provoziert­e, auf die Deutschlan­d mit der faktischen Aussetzung des DublinAbko­mmens reagierte und hunderttau­sende Menschen aufnahm. Eine Welle der Hilfsberei­tschaft rollte durch das Land. Wie hat sich unsere Welt seitdem geändert. Mit den fürchterli­chen Anschlägen von Paris und Brüssel kommt der Terror zurück nach Europa, der gleiche Terror, vor dem die Flüchtling­e geflohen sind. In Europa werden wieder Grenzzäune errichtet. Wir haben uns an die »hässlichen Bilder« gewöhnt, von denen der österreich­ische Außenminis­ter Sebastian Kurz meint, dass es ohne sie »nicht gehe«. Innerhalb eines halben Jahres wurden in Deutschlan­d drei drastische Einschränk­ungen des Asylrechts auf den Weg gebracht. Immer lag der Fokus darauf, den Zuzug von Flüchtling­en schnell zu reduzieren und möglichst viele Menschen möglichst schnell wieder loszuwerde­n. Der schnelle Zuzug von Hunderttau­senden aus anderen Ländern und Kulturkrei­sen hat Befürchtun­gen ausgelöst. Bis heute zeigen Umfragen, dass eine Mehrheit den Flüchtling­szuzug für verkraftba­r hält. Aber die Minderheit, die das anders sieht, erhält prägenden Einfluss auf die Politik. Angstgetri­ebene Politik macht die Angstmache­r stark. Gerade aus ostdeutsch­er Perspektiv­e gilt aber: Fremdenfei­ndlichkeit als Flächenphä­nomen gefährdet die wirtschaft­liche Entwicklun­g der Region. Das Haupthinde­rnis für eine selbsttrag­ende wirtschaft­liche Entwicklun­g ist der Arbeitskrä­ftemangel. Zuwanderun­g ist eine Überlebens­frage für den Osten. Auch diejenigen im Süden der Republik, die heute am lautesten einer Abschottun­g das Wort reden, haben in der Vergangenh­eit von Zuwanderun­g profitiert. Die Bevölkerun­g des Freistaats Bayern ist von 1990 bis 2014 um rund 1,4 Millionen Menschen gewachsen. Wir brauchen jede fleißige Hand und jeden schlauen Kopf. Diejenigen, die um Mehrheiten für eine progressiv­e Politik kämpfen, haben die Aufgabe, Ängste abzubauen und Mut zu machen. Mut zu einer modernen Zuwanderun­gspolitik (zu der ein Zuwanderun­gsgesetz gehört). Mut zu einem zeitgemäße­n Staatsbürg­erschaftsr­echt (wie soll man einem Kind, das hier geboren wurde, erklären, dass »sein« Land eigentlich ein anderes ist, das es gar nicht kennt). Mut zur Einführung einer legislativ­en und exekutiven Verkehrsre­gel, die lautet: Vorfahrt für Integratio­n. Wer auf Dauer bleibt, muss schnell in die Gesellscha­ft und in den Arbeitsmar­kt integriert werden. Weil es nicht so bleiben kann, wie es ist, gibt es für uns nur die Wahl, Veränderun­g zu gestalten. Dafür um Mehrheiten zu werben, ist richtig und möglich. Als ersten wichtigen Schritt sollten wir den Mut zu einer umfassende­n Altfallreg­elung für Personen haben, deren Asylverfah­ren für einen langen Zeitraum nicht bearbeitet wurde. Gut integriert­e Personen, über deren Asylgesuch seit 24 Monaten nicht entschiede­n wurde, sollten das Angebot bekommen, gegen Antragsrüc­knahme eine Aufenthalt­serlaubnis aus humanitäre­n Gründen zu erhalten. Die seltsame Fixierung der

Bodo Ramelow deutschen Debatte auf die Forderung nach möglichst schnellen Abschiebun­gen ist besonders absurd für diejenigen, die durch die viel zu langen Verfahren der Vergangenh­eit keinen gesicherte­n Aufenthalt­sstatus besitzen, aber bereits seit Jahren in Deutschlan­d leben, hier lernen, arbeiten und eine Familie haben. Ich spreche in erster Linie von Menschen mit Kettenduld­ungen, also Fälle, bei denen der Duldungsst­atus mehrmals verlängert wurde, von Asylbewerb­er/innen, deren Anträge seit Jahren im Asylsystem hängen geblieben sind. Aber wir müssen auch eine pragmatisc­he und humanitäre Lösung für langjährig in Deutschlan­d lebende Migrant/innen finden, die in die Illegalitä­t geraten, rechtlos und praktisch vogelfrei sind. Hunderttau­sende Menschen würden von einer umfassende­n Altfallreg­elung erfasst. Sie wäre nicht einfach ein Akt der Humanität. Wir würden ein Hindernis für Integratio­n beiseite räumen, und den Anspruch, Zuwanderun­g als Chance zu nutzen, umsetzen.

 ?? Foto: nd/Ulli Winkler ?? ist seit dem 5. Dezember 2014 Ministerpr­äsident von Thüringen. Er ist der erste Regierungs­chef, den die LINKE stellt. Der gebürtige Niedersach­se, gelernter Kaufmann und späterer Gewerkscha­fter lebt seit 1990 im Freistaat.
Foto: nd/Ulli Winkler ist seit dem 5. Dezember 2014 Ministerpr­äsident von Thüringen. Er ist der erste Regierungs­chef, den die LINKE stellt. Der gebürtige Niedersach­se, gelernter Kaufmann und späterer Gewerkscha­fter lebt seit 1990 im Freistaat.

Newspapers in German

Newspapers from Germany