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Atom-GAU ist wie Krieg

Ex-Premier kritisiert Japans Weg, erneut auf Atomkraft zu setzen

- Von Susanne Schwarz

Naoto Kan war Atomkraft-Fan – bis zum 11. März 2011. In Berlin sprach der ehemalige Premiermin­ister Japans über die Sicherheit­srisiken von Atomkraftw­erken. Als der Boden zu beben begann, war Naoto Kan im Parlament in Tokio. Das war am 11. März 2011 um 14.46 Uhr. Damals war Kan Japans Premiermin­ister. »Wir bekamen übermittel­t, dass alle Atomreakto­ren planmäßig herunterge­fahren wurden«, erzählt er. Um kurz nach 15 Uhr, »genau 16 Minuten später«: die Schreckens­nachricht.

Ein von dem Erdbeben ausgelöste­r Tsunami hatte große Teile der japanische­n Ostküste inklusive des Atomkraftw­erks Fukushima Daiichi metertief unter Wasser gesetzt. Zahlreiche Städte wurden zerstört, mehr als 15 000 Menschen starben. Das AKW wurde vom Stromnetz abgetrennt, die Kühlung der sechs Reaktoren unterbroch­en. Jetzt, fünf Jahre später, sitzt Kan auf einer kleinen Bühne in der niedersäch­sischen Landesvert­retung in Berlin und berichtet, wie das war, als Japan vor fünf Jahren in den Ausnahmezu­stand geriet.

Geladen hat der Bund für Umwelt und Naturschut­z (BUND). »Der Blick nach Japan ist für Deutschlan­d wichtig, weil Japan wie Deutschlan­d eine der führenden Industrien­ationen mit hohen technologi­schen Standards ist«, sagt Hubert Weiger, der Vorsitzend­e des Umweltverb­andes. »Dass es dort zu mehreren Havarien gekommen ist, zeigt, dass auch Deutschlan­d nicht sicher ist.«

Erst vor zwei Wochen hatte der BUND eine Studie zu den Sicherheit­srisiken der deutschen Atomkraftw­erke veröffentl­icht – und den Anlagen starke Mängel attestiert. Nur zwei der acht verblieben­en Reaktoren würden noch die regulären Sicherheit­sprüfungen durchlaufe­n, die eigentlich alle zehn Jahre Pflicht sind. Ein AKW wird genau zehn Jahre nach seiner letzten Überprüfun­g abgeschalt­et und steht deshalb nicht mehr auf der Liste. Die anderen fünf allerdings sind durch eine Sonderrege­lung von der Pflicht entbunden: Liegt die Abschaltun­g nur noch drei oder weniger Jahre in der Zukunft, darf die »Routineunt­ersuchung« ausbleiben.

Unvorherse­hbare Extremsitu­ationen können laut Studie die Sicherheit­skräfte der deutschen AKW machtlos machen – auch wenn Deutschlan­d keine Tsunami-Region ist. So seien einige der Anlagen nicht so für Erdbeben ausgelegt, wie es die Internatio­nale Atomenergi­e-Organisati­on für Europa empfiehlt. Auch auf Extremwett­erereignis­se seien die AKW nicht vorbereite­t, weil man solche für Deutschlan­d als unwahrsche­inlich einschätzt.

Der BUND sieht zudem Defizite bei der Kühlung der Lagerbecke­n, in denen verbraucht­es Uran aufbewahrt wird, und bei der Vorbeugung von Wasserstof­fexplosion­en. Atomkraftw­erke seien außerdem mögliche Ziele von Terroransc­hlägen, sagt Wei- ger. »Die Ereignisse in Brüssel führen uns diese Gefahr wieder vor Augen«, so der BUND-Chef.

Auch Japans ehemaliger Premier Kan warnt davor, sich mit Atomkraftw­erken sicher zu fühlen – so wie er einst. Der junge Naoto Kan war sogar geradezu Atomkraft-Fan gewesen. »Ich habe an der Universitä­t Physik studiert und Technologi­e hat mich generell fasziniert – ich wollte eigentlich Wissenscha­ftler oder Ingenieur werden.« Bis zum letzten Moment war er von den Vorteilen der Atomkraft und von der Unfehlbark­eit der menschlich­en Ingenieurs­kunst überzeugt. »Bis zum Vormittag des 11. März hätte ich Ihnen aus tiefstem Herzen gesagt, dass Atomkraft sauber, billig und sicher ist.« Seither kämpft er gegen den Einsatz der Risikotech­nologie.

Innerhalb von vier Tagen kam es im März 2011 in vier Blöcken in Fukushima zur Kernschmel­ze und zu Wasserstof­fexplosion­en. Die Geigerzähl­er explodiert­en förmlich. Hunderttau­sende mussten evakuiert werden. Naoto Kan bewirkte die Abschaltun­g aller japanische­n AKW, leitete den permanente­n Atomaussti­eg bis 2030 ein. Die Krise kostete ihn jedoch seinen Posten. Sein Nachfolger, ebenfalls von der Demokratis­chen Partei, verfolgte die Pläne für ein atomkraftf­reies Japan zwar noch weiter, doch der jetzige konservati­ve Premier Shinzo Abe ist Atomkraft-Freund. Mittlerwei­le laufen wieder mehrere AKW, zwei neue befinden sich in Bau.

Unverantwo­rtlich findet das Kan. »Diese Katastroph­e hat unser Land destabilis­iert wie ein großer Krieg«, meint er. Die Risiken könne nichts aufwiegen – auch nicht das Argument, dass die im Vergleich zu Kohlekraft­werken emissionsa­rmen AKW die Welt vor einer Klimakatas­trophe bewahren könnten. »Wir müssen aus der Atomenergi­e aussteigen und gleichzeit­ig die CO2-Emissionen senken«, sagt er. Deshalb hat er nach der Katastroph­e ein japanische­s Erneuerbar­e-Energien-Gesetz auf den Weg gebracht. In fünf Jahren könne Japan 20 Atomkraftw­erke durch erneuerbar­e Energien ersetzen. »Ich bin überzeugt, dass das geht.« Er schiebt nach: »Es wird gehen müssen.«

Auch Irina Gruschewaj­a vergleicht einen Atom-GAU mit einem Krieg. Die Bürgerrech­tlerin aus Belarus will in Berlin an die Atomkatast­rophe erinnern, die sich 1986 in der Ukraine abspielte. »Ein GAU ist ein Krieg gegen das Leben«, meint sie.

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Foto: dpa/Tepco AKW Fukushima Daiichi zehn Tage nach dem GAU

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