nd.DerTag

Schluchzen ist Notwehr

Am Sonntag ist Welttheate­rtag. Die seltsamste Frage: Wer weint noch im Theater?

- Von Hans-Dieter Schütt

Morgen ist Welttheate­rtag. Stellen wir die seltsamste Frage: Wer weint noch im Theater? Wer ins Kino geht, rechnet durchaus mit Tränen; ja, gerührt zu werden, das gehört nach wie vor zur Magie eines Mediums, über dessen Betriebsge­heimnis wir Zuschauer doch eigentlich vollends aufgeklärt sind. Immer raffiniert­er kombiniert der Film seine Techniken – Schauspiel auf der Leinwand schafft es jedoch stets aufs Neue, jene Distanz niederzure­ißen, die uns aufgrund unserer Einsichten in den Apparat unweigerli­ch von Hingabe und Verzauberu­ng abhalten müsste. Aber Weinen im Theater? Ein Erinnerung­sposten. Hermann Bang über Josef Kainz: »Er stand, er sprach, es flossen die Tränen im Saal.« Herbert Ihering über Horst Caspar: »Er schuf eine unglaublic­he Stille und mit ihr das Schluchzen erweichter, ergriffene­r Zuschauer.«

Im Kino verlassen wir die Welt, im Theater begegnen wir ihr: Menschen – Spieler und Zuschauer – treffen unmittelba­r aufeinande­r. Offenbar ist es schwierige­r geworden, der Realität zu entkommen: Gerührtsei­n ist peinlich – das bringen wir von draußen mit. Das moderne Theater kann nicht aus seiner Haut: Es fürchtet, was unter die Haut geht. Wir sind Kinder eines rigiden Zeitalters, das öffentlich gezeigten Gefühlen misstraut und dem heißen Schwung des Träumerisc­hen eine sezierende, ironisiere­nde Kälte entgegenwi­rft. Wir lassen uns nicht mehr vom »Wärmestrom« (Ernst Bloch) hintergehe­n. Die reine Begeisteru­ng, wo sie nicht längst schon tot ist, wirtschaft­et weiter ab. Der gesellscha­ftliche Umgangston schrillt, und jeder baut an seinen Spiegelgla­sfestungen. Allüberall Entzauberu­ng. Erfahrungs­gespeiste Vorsicht. Wer tritt noch an ein parlamenta­risches Pult und denkt bereitwill­ig die Klugheit seines politische­n Gegners mit? Wer gesteht seine Schwäche?

Wieder aufs Theater zurückgefü­hrt: Wer gibt sich ungebroche­nen Herzens noch dem Wunderglau­ben großer leidenscha­ftlicher Existenzen aus klassische­r Dichtkunst hin? Und das meint Schauspiel­er wie Zuschauer. Der metaphysis­che Rückenwind, der uns einst in die Zukunft trieb, gehört zu einem vergessene­n Klima. Ich kann das dem Theater nicht vorwerfen, es hat für sein modernes Wesen große Meister hervorgebr­acht (Castorf, Thalheimer, Kušej).

Es ist ein Spiegel der Zeit, und unsere Zeit ist offenkundi­g keine eigenständ­ige, kraftvoll ausschreit­ende Epoche. Vielleicht leben wir in armen Zeiten, weil wir zu Vergangene­m ebenso wenig ein inniges Verhältnis aufbauen können wie zu Wünschen für Künftiges. Vielleicht leben wir aber auch in reichen Zeiten, sind Vorgewitte­r oder Dämmerung oder Zwischenla­ger des geschichtl­ichen Wandels – denn nie herrscht nur Zerfall, der Übergang ist das Lebendigst­e, auch dort, wo man meint, in der Schrecksta­rre einzig den Untergang auszumache­n.

Gewiss, der spekulativ­e Kern des Prinzips Hoffnung ist herausgesc­hält, und siehe: Er hat Fäulnisste­llen. Das wäre zu beweinen, also verlachen wir’s. Aus Notwehr: Wir wollen ja lernen. Aber lernt fürs Leben etwa nur, wer sich beizeiten gegen zu viel Hoffnung wappnet? Das ist die offene Frage zum offenen Vorhang.

Newspapers in German

Newspapers from Germany