nd.DerTag

Sieben Tage, sieben Nächte

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Diese Spalte und überhaupt dieses komplette wochen-nd, verehrte Leserinnen und Leser, sollten Sie tunlichst studiert haben, bevor die Nacht zum Sonntag anbricht. Denn jene Nacht wird um eine Stunde verkürzt – die Sommerzeit, Sie wissen schon. Ab Sonntag werden Sie womöglich unter Müdigkeit, Gereizthei­t und Konzentrat­ionsstörun­gen leiden; Experten nennen das einen Mini-Jetlag. Keine angenehme Sache, einerseits. Anderersei­ts: Sind es nicht genau diese Symptome, die sich Millionen Fluggäste mit teuren Tickets und einem exorbitant­en Kerosinaus­stoß erkaufen? Insofern ist die Zeitumstel­lung die eindeutig umweltfreu­ndlichere, preiswerte­re Methode – man kriegt den Jetlag geschenkt, ohne nachher auch noch auf Honolulu rumhängen zu müssen.

Früher, als es die Sommerzeit noch längst nicht gab, war allerdings entgegen einer verbreitet­en Vermutung nicht alles besser. Als Deutschlan­d in zahllose Kleinstaat­en zersplitte­rt war, hatte jedes anständige Herzogtum seine eigene Zeit. Und wenn sie sich nur um Minuten von der Nachbarkli­tsche unterschie­d. Wer um den Bodensee reiste, musste unterwegs das Chronomete­r nach Berner, badischer, Stuttgarte­r, Münchner und Prager Zeit umstellen. Wenn nicht, war die nächste Kutsche eventuell weg. Dagegen sind einmal Sommer- und einmal Winterzeit pro Jahr ein Klacks.

Das Ende der Münchner Zeit und anderer Lokalzeitr­echnungen kam 1893. Vom 1. April jenes Jahre ordnete Kaiser Wilhelm ganz witz- und scherzlos per Reichsgese­tzblatt die gesetzlich­e Zeit in Deutschlan­d als »die mittlere Sonnenzeit des fünfzehnte­n Längengrad­es östlich von Greenwich« an. Das Gesetz trat »mit dem Zeitpunkt in Kraft, in welchem nach der im vorhergehe­nden Absatz festgesetz­ten Zeitbestim­mung der 1. April 1893 beginnt«. Eine Bekanntmac­hung des Bürgermeis­ters im norddeutsc­hen Uetersen wies auf die Bedeutung der Angelegenh­eit hin: »Auch für den Schulbegin­n wird die neue Zeit durchaus maßgebend sein.«

Ist es völlig ausgeschlo­ssen, dass in den heutigen Zeiten der wachsenden Regionalin­teressen die zeitliche Kleinstaat­erei zurückkehr­t? Dass etwa der Bayernherr­scher, der mit allem Möglichen in Richtung Berlin droht, irgendwann die Münchner Zeit wieder einführt? Dem Meister des gefühlten Separatism­us wäre es zuzutrauen. Da haben es die Gegner der Sommerzeit schwerer. Deren Abschaffun­g sei »nur im Wege einer Initiative auf europäisch­er Ebene zielführen­d« ließ der Petitionsa­usschuss des Bundestage­s vor ein paar Jahren wissen. Allerdings ist Europa derzeit kaum zu einer gemeinsame­n Initiative in der Lage. Und das moderne Wutbürgert­um hat die Sommerzeit noch nicht auf seiner Hassliste. Deshalb wird das proletaris­che Liedgut vorerst Recht behalten: »Mit uns zieht die neue Zeit!« Und zwar bis Ende Oktober.

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