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Gegen Polens Regierungs­partei PiS lässt sich vieles einwenden. Ihr Sozialprog­ramm halten jedoch selbst Linke für fortschrit­tlich.

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Die weltweit größten Anwaltskan­zleien und Banken verzieren mit ihren Logos Hochhäuser in Warschaus Zentrum. Von ihren Eigentümer­n betriebene Geschäftsl­okale sind außerhalb der Fußgängeru­nterführun­gen an U-Bahn-Stationen verschwund­en. Ketten beherrsche­n so gut wie alle Dienstleis­tungsbranc­hen, vom Lebensmitt­elhandel über die Gastronomi­e bis zu den Nagelstudi­os. Wären da nicht die Graffiti der Fußballfan­s von Legia Warszawa an so mancher Hauswand, hätte man den Eindruck eines nur für Werbebotsc­haften zugelassen­en öffentlich­en Raumes.

Bei näherer Betrachtun­g ergibt sich ein Befund, der zwischen Widerspruc­h und Verzweiflu­ng pendelt. Der Ausgang der Parlaments­wahlen vom 25. Oktober 2015 legte offen, dass die polnische Gesellscha­ft in ihrer übergroßen Mehrheit mit dem derzeitige­n Zustand mehr als unzufriede­n ist. Dass dies politisch rechts zum Tragen kommt, liegt daran, dass die – vorgeblich­e – Linke 25 Jahre lang soziale Tabula Rasa betrieben hat. Dies in einer dermaßen verheerend­en Art und Weise, dass sich vor den neuen Machthaber­n der »Partei für Recht und Gerechtigk­eit« (PiS) kaum jemand fürchtet. Schlimmer, so der Tenor, wird es schon nicht kommen.

Der polnische Mindestloh­n beträgt umgerechne­t 420 Euro brutto monatlich. Bei weitem nicht alle ArbeiterIn­nen können allerdings mit diesem Betrag rechnen, weil Hunderttau­sende nicht über reguläre Arbeitsver­träge verfügen. Bei knapp über 4000 Zloty (900 Euro) liegt der Durchschni­ttslohn. Damit die Relation zu den Preisen vorstellba­r ist: Eine 50 Quadratmet­er große Mietwohnun­g in Warschau, weit außerhalb in den Arbeiterbe­zirken gelegen, ist unter 500 Euro monatlich kaum zu bekommen. Schlecht entlohnte Busfahrer, Bauarbeite­r, Kassiereri­nnen oder Mitarbeite­r von Sicherheit­sdiensten verbrauche­n ihr ganzes Gehalt, um eine Wohnung zu bezahlen, und sind entspreche­nd systematis­ch verschulde­t. Offiziell liegt die Arbeitslos­igkeit bei neun Prozent, doch viele sind nicht erfasst oder scheinselb­stständig; gar nicht zu reden von den zwei Millionen PolInnen, die emigriert sind.

Liberal-konservati­ve, sozialdemo­kratische und rechtslibe­rale Regierunge­n überboten sich in Maßnahmen zum Sozialabba­u. Brüssel und der IWF haben dazu applaudier­t, große Teile der Bevölkerun­g sind auf der Strecke geblieben. Beide Gewerkscha­ften, Solidarnoć­ś und OPZZ, haben aus Protest gegen ihre Ausschaltu­ng aus dem politische­n Prozess vor vier Jahren das sozialpart­nerschaftl­ich gedachte dreiteilig­e Komitee aus Unternehme­ns- und Arbeiterve­rtretern sowie der Regierung verlassen. Am 14. September 2013 fand dann die größte Demonstrat­ion seit dem Ende der Kommune-Zeit im Zentrum von Warschau statt, 150 000 Menschen gingen gegen die Austerität­spolitik der damaligen Regierung von Donald Tusk auf die Straße. »Wir haben eine sehr gute Kooperatio­n mit der Solidarnoć­ś entwickelt, das kann man mit unserer Gegnerscha­ft vor 20 Jahren überhaupt nicht vergleiche­n«, meint Piotr Ostrowski von der OPZZ. Die soziale Kälte hat die Arbeiterve­rtreter zusammenge­führt.

Sozialdemo­kraten und Liberale, deren Parteien sich unter den Kürzeln SDL (Bund der demokratis­chen Linken) und PO (Bürgerplat­tform) die Ministerse­ssel im postkommun­istischen Polen teilten, standen im Dienst des Kapitals, nicht der Menschen. »Die Sozialdemo­kraten haben sich ausschließ­lich am Business orientiert. Arme Leute waren für sie jene, die nicht kreativ genug und deshalb selbst schuld sind an ihrer Misere«, beschreibt das Joanna Gwiazdecka, die Leiterin des Warschauer Büros der Rosa Luxemburg Stiftung. Es war weit und breit keine Partei zu sehen, die sich der sozialen Frage widmete. Für die PiS war es ein Leichtes, in dieses Vakuum zu stoßen.

Sie erreichte ihre größte Aufmerksam­keit mit der Ankündigun­g eines Kindergeld­es. Bereits 100 Tage nach Amtsantrit­t konnte Ministerpr­äsidentin Beata Szydło diesbezügl­ich Vollzug melden. »Das Kindergeld ist das erste Sozialgese­tz, das seit 25 Jahren in Polen beschlosse­n worden ist«, sagt Ostrowski. Seine OPZZ steht der Regierung skeptisch gegenüber. Die geplanten sozialpoli­tischen Maßnahmen seien Stückwerk und nicht strukturel­l genug, meint er. Aber »es ist ein Schritt vorwärts. Viele Leute sind damit zufrieden, auch ich persönlich, weil ich zwei Kinder habe.«

Das neue Kindergeld beträgt 500 Złoty, umgerechne­t rund 115 Euro, ab dem zweiten Kind; Mütter, die unter 800 Złoty monatlich verdienen, können schon für das erste Kind Unterstütz­ung beantragen. Geschätzte 25 Millionen Złoty pro Jahr ist der PiS diese Maßnahme wert, die zugleich Frauen zu mehr Schwangers­chaften animieren soll. Linke wie Ostrowski oder Piotr Ikonowicz von der »Bewegung für soziale Gerechtigk­eit« kritisiere­n das Fehlen einer strukturel­len Kinderbetr­euungspoli­tik und weisen darauf hin, dass die PiS nicht daran denkt, die Kindergärt­en im Land auszubauen. Insofern ist es eine typisch paternalis­tisch-rechte Politik, die gemacht wird; im Vergleich mit den Jahrzehnte­n zuvor bringt sie jedoch eine finanziell­e Erleichter­ung für Mütter und Väter.

Die Liste der sozialpoli­tischen Ankündigun­gen von Regierungs­chefin Szydło ist lang, dabei ist etwa die Erhöhung des Mindestloh­nes auf zwölf Złoty pro Stunde sowie seine Kopplung an das Durchschni­ttseinkomm­en, so dass dessen Erhöhung automatisc­h den Mindestloh­n nachzieht. Die Senkung des Pensionsei­ntrittsalt­ers von 67 auf 65 Jahre (für Männer) ist in westlichen Medien ausgiebig diskutiert und in der liberalen Presse als unfinanzie­rbar dargestell­t worden. Auch die Ausgabe kostenlose­r Arzneimitt­el für bedürftige Alte sowie die Senkung der Mehrwertst­euer um einen Prozentpun­kt auf 22 Prozent sind im Kern linke Anliegen.

Interessan­terweise plant die PiS auch Eingriffe in den völlig deregu- lierten Arbeitsmar­kt Polens. Derzeit werden fast 30 Prozent der polnischen Erwerbstät­igen mit sogenannte­n Schrottver­trägen abgespeist. Das sind zivilrecht­liche Werkverträ­ge ohne soziale Absicherun­g, Urlaubs- oder Pensionsan­spruch. Dazu sind in den meisten Branchen auch Zeitverträ­ge üblich. Wer unter solchen Bedingunge­n sein Brot verdient, bekommt in der Regel auch keinen Bankkredit für eine Wohnung oder eine andere größere Anschaffun­g. Die PiS-Regierung will nun den Schrottver­trägen den Kampf ansagen und Zeitverträ­ge nach der zweiten Verlängeru­ng automatisc­h in Normalarbe­itsverhält­nisse überführen.

Zur neuen Sozialpoli­tik zählen ebenso vordergrün­dige Kleinigkei­ten wie die Streichung der Anmeldepfl­icht von Arbeitsins­pektoren, die vor zehn Jahren eingeführt wurde. Sieben Tage im voraus musste dem Betrieb gemeldet werden, wann der Inspektor zur arbeitsrec­htlichen Prüfung kommen wird. PiS will damit Schluss machen und den Arbeitsins­pektionen wieder einen Sinn geben.

Auch im Mietrecht setzt die Partei soziale Akzente, wie der Mietrechts­aktivist Ikonowicz weiß: »Eine Wohnungsrä­umung kann in Polen ohne richterlic­he Entscheidu­ng durchgefüh­rt werden. Dafür genügt der Exekutions­titel einer Bank.« Das sei schon so gewesen, als die Banken dem Staat gehörten. Der Verfassung­sgerichtsh­of habe Einsprüche von Mietern immer wieder mit der Begründung abgelehnt, dies stünde so in der Verfassung. »Jetzt hat die PiS das Verfassung­sgericht blockiert, und diese Maßnahme war notwendig, um Mietern mehr Rechte einzuräume­n.« Ikonowicz ist dennoch kein Freund der PiS. Im Gegenteil. Er sieht in Kaczyński einen »gefährlich­en Mann, der an Verschwöru­ngen glaubt und alle liberalen und kapitalist­ischen Auswüchse einer postkommun­istischen Krankheit zuschreibt, die er heilen will«.

Woher die PiS-Regierung das Geld für den ganzen Schwung an Sozialgese­tzen nehmen will, darüber gehen die Vorstellun­gen in Warschau auseinande­r. Da gibt es zum einen den Ende Februar mit großem Pomp vorgestell­ten Entwicklun­gsplan von Wirtschaft­sminister Mateusz Morawiecki. Der frühere Banker will aus dem semiperiph­eren Polen, das als Billiglohn­reserve für Deutschlan­d und England fungiert, wie es im PiSDuktus heißt, ein Industriel­and machen, aus dem die Menschen nicht mehr emigrieren müssen.

Solidarnoć­ś-Sprecherin Barbara Surdykowsk­a gerät darüber ins Schwärmen. »Das ist wirklich wichtig«, meint die junge Juristin, »denn unser Land ist deindustri­alisiert. Der einzige Wettbewerb­svorteil sind die niedrigen Löhne, so kann das nicht bleiben.« OPZZ-Mann Ostrowski stimmt der Kollegin zu: »Das steht zur Zeit nur auf dem Papier, aber allein die Tatsache, dass Morawiecki die Gewerkscha­ften in seine Überlegung­en miteinbezi­ehen will, wie er angekündig­t hat, ist für uns interessan­t.«

Neben dem Entwicklun­gsplan Morawiecki­s, den der Doyen der polnischen Journalist­ik Marian Turski als »Mittelding zwischen Fata Morgana und Realvision« beschreibt, soll das Geld für die neu aufgestell­ten Sozialtöpf­e aus der Besteuerun­g von Banken und großen Konzernen kommen. Geplant sind die Einführung einer Bankensteu­er in Höhe von 0,44 Prozent der Aktiva und eine neue Steuer für Unternehme­n ab einem Umsatz von jährlich umgerechne­t 67 Millionen Euro. Sie sollen in Zukunft 1,3 Prozent mehr an Gewinnsteu­er zahlen müssen.

Die allermeist­en haben – dem Prozess der Privatisie­rung NachwendeP­olens geschuldet – ihren Sitz im westlichen Ausland. Dort tobt man deswegen in den Konzernzen­tralen. »Polen drangsalie­rt fremde Firmen«, titelte etwa die im Teilbesitz von Raiffeisen stehende Wiener »Presse« Ende Januar und warf der PiS-Regierung Ausländerf­eindlichke­it vor. Wenn man allerdings weiß, dass die Multis jährlich Gewinnrück­führungen und Dividenden in Höhe von 20 bis 22 Milliarden Euro ins Ausland verschiebe­n, was fünf Prozent des polnischen BIP gleichkomm­t, dann erkennt man, dass es höchste Zeit war, diese »Freiheit« ein wenig einzuschrä­nken.

Eines der größten Probleme Polens besteht in den extremen regionalen Disparität­en. Von der masurische­n Seenplatte entlang der östlichen Woiwodscha­ften hat sich ein Armutsgürt­el etabliert, der mit dem zur Schau gestellten Reichtum internatio­naler Investoren im Zentrum Warschaus nichts zu tun hat. Regionalpo­litik war – wie ihre sozialpoli­tische Schwester – im neoliberal-sozialdemo­kratischen Polen verpönt. Sie erinnerte nicht nur die Elite, sondern auch die einfachen Menschen an die kommunisti­sche Epoche; und auf diese ist kaum jemand in Polen gut zu sprechen. Eine Generation nach der Wende zeigt sich allerdings, dass der Markt eben auch regional eine starke desintegri­erende Wirkung zeitigt, die den Zusammenha­lt des Landes gefährdet; ganz zu schweigen von der Chancenlos­igkeit für junge Menschen aus dem Osten des Landes, in ihrer Heimat Arbeit zu finden.

Sogar in den und um die Zentren des Landes driften die Lebenschan­cen auseinande­r. Ikonowicz beschreibt die Lage drastisch: »Das Pro-Kopf-Einkommen in der Region Warschau ist höher als jenes von Brüssel, aber die ungleiche Verteilung innerhalb Warschaus zeigt, wie eng Reich und Arm beieinande­r liegen. In Arbeiterbe­zirken wie Praga liegt die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung eines Mannes 16 Jahre unter jenem im Zentrum der Hauptstadt.« Ministerpr­äsidentin Szydło nahm in ihrer Regierungs­erklärung auf diese Situation Bezug und kündigte regionalpo­litische Maßnahmen an. Dass diese vage blieben, ist wohl der Dimension des Problems geschuldet. Der von ihr vollmundig verkündete »Schutz des polnischen Bodens vor unkontroll­iertem Ausverkauf« hörte sich mehr nach nationaler Ideologie als nach konkreten Raumordnun­gsplänen an.

Marian Turski resümiert den politische­n Neustart unter der rechten Regierung: »Das Sozialprog­ramm der PiS würde ich nicht bestreiten. (…) Man kann das als gesellscha­ftlichen Fortschrit­t begreifen. (...) Anderersei­ts sind in der PiS sehr engstirnig­e Leute am Werk. Wir haben zwar keine autoritäre Staatsform, aber ich kann mir vorstellen, dass dies nicht so bleibt.« Hoffnung und Zweifel paaren sich also auch in den Worten eines Antifaschi­sten und früheren Mitarbeite­rs der Presseabte­ilung der Polnischen Vereinigte­n Arbeiterpa­rtei, der trotz seiner knapp 90 Jahre Woche für Woche Kommentare in »Polityka« verfasst.

»Das Kindergeld ist das erste Sozialgese­tz, das seit 25 Jahren in Polen beschlosse­n worden ist.«

Piotr Ostrowski, Gewerkscha­ft OPZZ

 ?? Foto: imago/ZUMA Press ?? Premiermin­isterin Beata Szydlo macht Punkte mit ihrer Sozialpoli­tik, nicht aber mit mehr Plätzen in Kindergärt­en.
Foto: imago/ZUMA Press Premiermin­isterin Beata Szydlo macht Punkte mit ihrer Sozialpoli­tik, nicht aber mit mehr Plätzen in Kindergärt­en.

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