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Auch Denken will gelernt sein

Anders als etwa in Frankreich ist in Deutschlan­d Philosophi­e bis heute kein ordentlich­es Schulfach. Dabei können sich schon Grundschül­er mit philosophi­schen Fragen beschäftig­en.

- Von Martin Koch

Wie kommen die Gedanken in meinen Kopf? Was ist Glück? In deutschen Schulen beschäftig­en sich Schüler nur selten mit solchen Fragen.

Kinder fragen gern und viel: Wie ist die Welt entstanden? Existieren die Dinge auch, wenn ich nicht hinschaue? Was passiert nach dem Tod? Haben Tiere eine Seele? Wie kommen die Gedanken in meinen Kopf?

Vielen Eltern fehlt schlicht die Geduld und manchen auch das Wissen, um solche Fragen zu beantworte­n. »Das verstehst du noch nicht, das erklär’ ich dir später«, lautet ein beliebter Spruch, mit dem Eltern die Neugier ihrer Sprössling­e zu zügeln versuchen. Auch in der Schule werden philosophi­sche Fragen eher am Rande behandelt oder, mit entspreche­nder Absicht, im Religionsu­nterricht.

Es ist daher gut möglich, dass in Deutschlan­d jemand das Abitur ablegt, ohne je einen Blick in eines der großen Werke der Philosophi­e geworfen zu haben – weder in Kants »Kritik der reinen Vernunft« noch in Feuerbachs »Das Wesen des Christentu­ms« oder in Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse«. Überhaupt gilt das gedruckte Wort in der »Generation Facebook« als Auslaufmod­ell. Sich in philosophi­sche Bücher zu vertiefen, hat für viele Jugendlich­e ungefähr denselben Charme wie das Schreiben von Briefen, nämlich gar keinen. Andere glauben, dass Philosophi­e nur eine abgehobene Beschäftig­ung mit Fragen sei, die sich ansonsten kein normaler Mensch stellen würde.

Nicht überall auf der Welt denkt man so. In Frankreich zum Beispiel genießt die Philosophi­e in der Öf- fentlichke­it eine hohe Wertschätz­ung und selbst im Fernsehen werden philosophi­sche Fragen auf hohem Niveau erörtert. Hierzuland­e erhält gegebenenf­alls der smarte Richard David Precht zu später Stunde die Gelegenhei­t, in seinen TV-Gesprächen mit prominente­n Zeitgenoss­en auch über Metaphysis­ches zu fabulieren. Eine solche Entwicklun­g sei angesichts der großen philosophi­schen Tradition der Deutschen absurd, meint der französisc­he Philosoph Raphaël Enthoven, der sich in einem Interview mit der Zeitschrif­t »Cicero« auch verwundert darüber zeigte, dass es in Deutschlan­d kein ordentlich­es Schulfach Philosophi­e gibt. »Philosophi­e ist ein fundamenta­les Menschenre­cht. Ich verstehe nicht, warum das nicht in der Schule gewährt wird. Ich habe Mitleid mit euch!«

Immerhin gibt es in Deutschlan­d Ethikunter­richt. Dieser wurde bereits in der alten Bundesrepu­blik eingeführt, um Schülern, die nicht das Fach Religion belegten, eine, wie es recht anmaßend hieß, vergleichb­are Werteerzie­hung zukommen zu lassen. Je nach Bundesland ist der Ethikunter­richt heute entweder als Ersatzfach für Religion, als Wahlpflich­tfach oder wie in Berlin als ordentlich­es Lehrfach konzipiert. Seit Jahren wird von Eltern und Pädagogen allerdings beklagt, dass an vielen Schulen der Ethikunter­richt nicht stattfinde oder von fachfremde­n Lehrern übernommen werde. Auch die Begeisteru­ng der Schüler lässt mitunter zu wünschen übrig, und manche kämpfen, wie man im Netz erfährt, im »Laberfach Ethik« permanent mit dem Schlaf.

Als Teildiszip­lin der Philosophi­e beschäftig­t sich die Ethik vorrangig mit den Voraussetz­ungen menschlich­en Handelns und dessen Bewertung. Zwar können dabei auch allgemeine philosophi­sche Fragen diskutiert werden, als Ersatz für einen regulären Philosophi­eunterrich­t taugt das jedoch nicht. Denn zu dessen wichtigste­n Aufgabe gehöre es, so der französisc­he Didaktiker Michel Tozzi, junge Menschen in die Geschichte des philosophi­schen Denkens einzuführe­n und sie zu ermutigen, eigene philosophi­sche Vorstellun­gen zu entwickeln.

Erfahrunge­n hierzu gibt es auch in Deutschlan­d. In einigen Bundesländ­ern ist Philosophi­e ein Wahl(pflicht)fach in der Sekundarst­ufe sowie Gegenstand der Abiturprüf­ung. Ein europaweit einzigarti­ges Projekt wurde in den 1990er Jahren in Mecklenbur­g-Vorpommern gestartet. Seitdem steht dort bereits ab der ersten Klasse das Fach »Philosophi­eren mit Kindern« als Ersatz für das Fach Religion auf dem Lehrplan. »Im Philosophi­eunterrich­t gewinnen Kinder und Jugendlich­e Zutrauen zu ihrem eigenen Denken und Freude daran, die Tragweite ihrer Gedanken und Vorstellun­gen in verschiede­nen Situatione­n zu erproben«, heißt es zur Begründung. Vielen Schülern kommen die hierbei erworbenen Kompetenze­n sowohl in anderen Fächern als auch im Alltag zugute. Das gilt für die Fähigkeit zur Selbstrefl­exion mitunter ebenso wie für den Umgang mit Auffassung­en, die man selber nicht teilt.

Kontrovers diskutiert wird nach wie vor die Frage, ob Grundschül­er überhaupt in der Lage sind, sich in eine so komplizier­te Materie wie die Philosophi­e hineinzude­nken. Jean Piaget, der Urvater der kognitiven Entwicklun­gspsycholo­gie, hielt das schlicht für ausgeschlo­ssen. Da Kinder erst mit etwa zwölf Jahren formale geistige Operatione­n ausführen könnten, behauptete er, sei es sinnvoll, ihnen erst ab diesem Alter die Fähigkeit zum logisch-systematis­chen Denken zuzusprech­en. Der 2011 verstorben­e USPhilosop­h Gareth Matthews widersprac­h dem entschiede­n und wies darauf hin, dass Fünf- bis Siebenjähr­ige viel häufiger philosophi­sche Fragen stellten als Elf- und Zwölfjähri­ge. Was auf den ersten Blick paradox anmutet, erklärte Matthews so: »Kleinere Kinder haben nur selten Hemmungen, ihre Neugier frei zu artikulier­en. Jugendlich­e sind indes von den Erwachsene­n bereits entmutigt worden, so viele ›unnütze‹ Fragen überhaupt zu stellen.« Drastische­r noch formuliert es der Berliner Pädagogikp­rofessor Hans-Ludwig Freese: »Es ist bisweilen beängstige­nd, wie früh manche Kinder dem Konformism­us im Denken und Fühlen verfallen, Staunen und Fragen verlernen und selbststän­diges Denken scheuen.«

Manche Verfechter eines frühen Philosophi­eunterrich­ts sehen in Kindern gar so etwas wie »kleine Philosophe­n«. Das ist sicherlich übertriebe­n, aber selbst der große deutsche Existenzph­ilosoph Karl Jaspers war angetan von der Ursprüngli­chkeit und Unbefangen­heit des kindlichen Denkens: »Nicht selten hört man aus Kindermund, was dem Sinne nach unmittelba­r in die Tiefe des Philosophi­erens geht.«

Nun wird gewiss niemand verlangen, dass man bereits Grundschül­er mit Texten von Platon, Aristotele­s oder Kant traktiert. Im Mittelpunk­t des frühen Philosophi­eunterrich­ts sollten vielmehr Gespräche über Themen stehen, die den meisten Schülern aus ihrem eigenen Lebensumfe­ld vertraut sind. In höheren Klassen könnten die dabei gewonnenen Erkenntnis­se systematis­ch und begrifflic­h vertieft werden, natürlich nur unter der Voraussetz­ung, dass der Lehrplan hierfür ausreichen­d Gelegenhei­t bietet.

In der Schule werden philosophi­sche Fragen eher am Rande behandelt oder, mit entspreche­nder Absicht, im Religionsu­nterricht.

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Foto: dpa/Ronald Wittek

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