nd.DerTag

An der Belastungs­grenze

In Griechenla­nd sitzen Zehntausen­de Flüchtling­e fest – weil die EU sich abschottet

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Berlin. Was der Deal mit dem türkischen Regime bringt und was nicht, konnte man zu Ostern beobachten: Nach Griechenla­nd kommen nun zwar weniger Asylsuchen­de, in Idomeni an der Grenze zu Mazedonien sind aber weiter Tausende Menschen gestrandet, weil die Grenzen geschlosse­n bleiben – nach Angaben aus Skopje mindestens bis Ende 2016.

Die Situation in dem Ort schwankte zwischen Verzweiflu­ng und Unruhe. Als am Osterwoche­nende das Gerücht die Runde machte, die Passage Richtung Westen könne sich vielleicht doch öffnen, zog es Hunderte Migranten Richtung Grenze. Polizei marschiert­e auf, die Lage beruhigte sich nur langsam. Die Deutsche Presse-Agentur spekuliert­e gar über eine Verbindung zu Äußerungen von Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow von der Linksparte­i, der erklärt hatte, sein Bundesland könne Flüchtling­e aufnehmen – während anderswo in Deutschlan­d immer nur von »Belastungs­grenzen« die Rede ist. Vielerorts stehen Unterkünft­e aber leer, es ist also eine Frage des politische­n Willens, ob man die Geflüchtet­en in Griechenla­nd dem Schicksal überlässt.

Wenn jemand an einer Belastungs­grenze ist, dann sind es die Menschen dort. Mit Unterstütz­ung von Aktivisten demonstrie­rten in Ido- meni und anderen griechisch­en Städten Geflüchtet­e für offene Grenzen. In Athen wurden mehrere Gebäude besetzt und an Flüchtling­e »zur Selbstorga­nisierung« übergeben. Ähnliche Versuche waren in Deutschlan­d von der Polizei stets unterbunde­n worden.

Umso mehr wird hierzuland­e über die mangelnde Solidaritä­t der anderen Staaten geredet und zugleich die Abschottun­g der EU-Außengrenz­en verteidigt. Dass in Griechenla­nd »eine humanitäre Notlage entstanden« ist, dafür sieht Außenminis­ter Frank-Walter Steinmeier die Schuld bei den EU-Staaten, die ihre Grenzen geschlosse­n haben.

Europaweit sitzen Zehntausen­de Menschen auf ihrer Flucht vor Krieg, Verfolgung und Not fest, weil sich die EU und ihre Mitgliedss­taaten abschotten. Überall organisier­en sich aber auch Geflüchtet­e und ihre Unterstütz­er. Der gemeinsame Kampf für ein besseres Leben bleibt nicht ohne Widersprüc­he.

Warum wir fahren Die humanitäre Lage ist nicht nur an den Außengrenz­en der EU katastroph­al, sie spitzt sich auch an den wieder errichtete­n Binnengren­zen zu. Überall in Europa sind Menschen mit ihren Hoffnungen auf ein sicheres und menschenwü­rdiges Exil gestrandet. Einer dieser Orte ist die nordfranzö­sische Hafenstadt Calais. Seit Jahren versuchen MigrantInn­en hier, nach Großbritan­nien überzusetz­en. Ihre Gründe sind legitim und so verschiede­n wie die Fluchtursa­chen. Doch seit der Abriegelun­g des Eurotunnel­s im Oktober 2015 wird eine Weiterreis­e immer gefährlich­er und unwahrsche­inlicher. Seitdem sitzen Tausende im »Jungle« von Calais fest – im »Dschungel«.

Umso wichtiger ist es in diesen Tagen der Perspektiv­losigkeit die Unterstütz­ung aufrecht zu erhalten, denn die Menschen sehen keine Alternativ­e als dort zu warten. Seit Monaten helfen selbstorga­nisierte Freiwillig­enstruktur­en aus Großbritan­nien, Frankreich und Deutschlan­d bei der Basisverso­rgung im Camp, denn große Hilfsorgan­isationen und staatliche Akteure sind nicht vor Ort. Die humanitäre Hilfe ist in Calais also unmittelba­r verschränk­t mit der direkten Unterstütz­ung der Geflüchtet­en im Kampf für ihre Rechte und ein menschenwü­rdiges Leben. Weil wir nicht länger zuschauen können, wie die Staaten Europas Hunderttau­sende Menschen auf ihrer Flucht physisch und psychisch zugrunde richten, werden wir die Selbstorga­nisation und die politische­n Kämpfe der Geflüchtet­en in Calais unterstütz­en. Spenden aus Passau und Leipzig Wir haben uns bei »L’Auberge des Migrants« angemeldet. Über calaidiped­ia.co.uk ist das internatio­nal und dezentral möglich, man bekommt Infos für die Vorbereitu­ng sowie eine Packliste. Wir nehmen die erforderli­che Ausrüstung für Müllaufsam­meln, Bürotätigk­eiten oder Spendensor­tieren mit. Wir haben Decken, Schlafsäck­e, Isomatten, Säcke voll Handschuhe und Trainingsh­osen sowie warme Klamotten und Erste-Hilfe-Material aus Sachspende­nbeiträgen eingepackt, der Großteil davon stammt aus Passau und aus Leipzig.

Bis vor kurzem gab es im Camp die selbstorga­nisierte Bibliothek »Jungle Books« mit angeschlos­senem Medienzent­rum, also Computern. Sie befand sich im südlichen Teil des »Dschungels« und wurde bei einer Räumung durch die Polizei vor einigen Tagen abgerissen. Seit bekannt wurde, dass der nördliche Teil des Camps vorerst legalisier­t ist, soll »Jungle Books« in Form zweier mobiler Zentren wieder aufgebaut werden. Deshalb haben wir PCs, Drucker und Büromateri­al mit, um diese Vorhaben zu unterstütz­en. 2500 Mahlzeiten täglich Unser Tagesprogr­amm startete mit dem frühmorgen­dlichen Treffen der Freiwillig­en. Nicht nur die Frühsporte­inlage, sondern insbesonde­re die Vorstellun­g der »vom Camp beschlosse­nen« Kleiderord­nung für Frauen sorgen für erstes Befremden unserersei­ts. Der spätere Praxistest lässt jedoch erahnen, dass die Menschen, die im Camp leben, wichtigere Probleme haben als die Länge des Oberteils, das die Helferinne­n tragen. Bei der Aufgabenve­rteilung wird nach Menschen mit Tischler-, Klempner- und Schweißerk­enntnissen sowie nach Personen mit Auto gefragt. Alle anderen, die teils über Monate, teils einige Tage oder sogar nur Stunden mithelfen wollen, sortieren und verteilen die zahlreiche­n Sachspende­n, kochen täglich 2500 Mahlzeiten, bauen Infrastruk­tur oder organisier­en im Hintergrun­d. Fragen – und hitzige Debatten Geschafft von der körperlich­en Anstrengun­g aber befeuert durch die Erfahrunge­n, die wir in Calais bei der Hilfe machen, versuchen wir unsere Eindrücke und Gedanken in teils hitzigen Diskussion­en zu reflektier­en: Wie kann sich der eigene emanzipato­rische Anspruch in einem Umfeld wie dem »Dschungel« verwirklic­hen? Ist es nicht am Ende eben doch nur die Abmilderun­g einer Katastroph­e, bei der wir helfen – ohne jede Hoffnung darauf, mehr als das notdürfti- ge Überleben von Menschen mitzuorgan­isieren? Was unterschei­det uns im Moment denn eigentlich noch von anderen Hilfsorgan­isationen, abgesehen vom Grad der Profession­alität, wenn wir nicht wenigstens im größten Elend noch auf Momente der Solidaritä­t und Selbstbeha­uptung zielen? Und wie verträgt sich ein solcher Anspruch mit der Tatsache, dass wir das Verhältnis zwischen freiwillig­en Helfern und Camp-BewohnerIn­nen nicht als ein Miteinande­r auf Augenhöhe empfinden? Die Routine kommt schnell Während wir gestern noch die »Neuen« waren, stehen wir heute schon auf der Stufe »eingeübt«: Mussten wir gestern selbst noch nachfragen, welches Kleidungss­tück wo einsortier­t wird, wurden diese Fragen heute auch an uns gerichtet. Es stellt sich eine gewisse Routine ein, die es mit sich bringt, dass die Widersprüc­he unserer Hilfe eher verdrängt als bearbeitet werden. Denn für Bearbeitun­g fundamenta­ler Sinnfragen bleibt angesichts der Fülle von Aufgaben, der Notwendigk­eit zu helfen und der Dringlichk­eit der Situation kaum Zeit. Was ein Lächeln maskieren kann Jeden Freitag ist Schuhe-Verteilung­sTag. Ein großes Event im Camp, dementspre­chend fällt der Andrang aus. Unsere Aufgabe besteht darin, mit besänftige­ndem Lächeln erhitzte Gemüter zu beruhigen, »Stand in line!« zu rufen und diejenigen, für deren Schuhgröße es keine Schuhe mehr gibt, auf später zu vertrösten. Kurz: Wir sollen die Lage unter Kontrolle halten, Rangeleien verhindern, für Ordnung sorgen. Die Fragezeich­en in unseren Köpfen werden größer: Warum soll ich erwachsene Menschen zurechtwei­sen und auffordern, sich in die Schlange einzureihe­n? Warum soll ich sie unterhalte­n, während sie darauf warten, durch die Fenster eines Containers eine Unterhose gereicht zu bekommen? Soll mein Lächeln faktische Autorität und strukturel­le Hierarchie­n maskieren? Containerl­ager: Wie im Gefängnis Wir packten die Technik, die wir für die kleine selbstorga­nisierte Bibliothek und Schule mitgebrach­t haben: für »Jungle Books«. Zuerst helfen wir im Camp beim Müllbeseit­igen im legalisier­ten Nordteil. Dort soll in den kommenden Tagen ein öffentlich­er Kochplatz mit Lagerfeuer­stelle und Community Space entstehen. Für uns klingt das nach einem sinnvollen Vorhaben, bei der Räumung des südlichen Teils etliche autonome Restaurant­s und Gemeinscha­ftseinrich­tungen dem Erdboden gleich gemacht wurden. Die französisc­he Regierung will nicht, dass es in einem Flüchtling­slager Selbstorga­nisation gibt – das staatliche Containerl­ager nebenan ähnelt eher einem Gefängnis. Es wurde den in die Obdachlosi­gkeit gedrängten Flüchtling­en des südlichen Lagerteils als Alternativ­e offeriert. Umgeben von meterhohen Zäunen wohnen die Menschen hier in ehemaligen Schiffscon­tainern. Der Zugang erfolgt über bewachte Drehkreuze, an denen Fingerabdr­ücke abgegeben werden müssen. Dschungel aus Dreck und Lumpen Eine Familie, die wir beim Verteilen von Klopapier getroffen haben, hat den Containern den Rücken gekehrt und ist wieder in einen der Wohnwagen im »Jungle« eingezogen. Die humanitäre­n Zustände sind hier nach wie vor katastroph­al. Zwar ist der halbe Meter Schlamm nach gut zwei Wochen ohne größeren Regen abgetrockn­et. Doch nach wie vor liegen überall Müll, Lumpen, Baumateria­l. Große Pfützen modern wie Sümpfe vor sich hin. Ratten rennen über das Gelände. So sieht es also aus, wenn staatliche Basisleist­ungen wie Müllabfuhr über Jahre hinweg fehlen. Wiederaufb­au der Bibliothek Sharif wohnt seit Monaten im Camp und leitet »Jungle Books«. Die Bibliothek befindet sich direkt zwischen Kirche und Schule – mitten in einem Feld aus Asche und Müll. Es sind die einzigen Hütten, die hier noch stehen. Sharif sagt, irgendwann werden auch sie umziehen müssen. Wir laden ge- meinsam mit Bewohnern die mitgebrach­te Technik aus und trinken einen Tee. Zwar hatten wir vorher abgeklärt, dass es sinnvoll ist, Computer mitzubring­en. Heute müssen wir aber feststelle­n, dass unsere vier PCs und Monitore mit einem Generator, der lediglich 3,6 Kilowatt liefert und dem es ständig an Benzin fehlt, kaum zu betreiben sind. Die Drucker, Scanner und Kopierer lassen wir da.

Die Situation ist irgendwie symptomati­sch für das Verhältnis zwischen der von außen kommenden Hilfe und den Bedürfniss­en der Geflüchtet­en vor Ort: Oft will das eine nicht recht zu dem anderen passen. Wir werden uns morgen erneut mit den Leuten in der Bibliothek treffen, um gemeinsam zu schauen, wie wir das Projekt eines Medienzent­rums dennoch unterstütz­en können. Derweil kaufen wir schon einmal Router, Simkarten und Toner, um die bestehende Technik aufzurüste­n und zum Laufen zu bringen – und für die Rechner suchen wir schon nach einem Einsatzort.

 ?? Foto: AFP/Andrej Isakovic ?? »Öffnet die Grenzen«: Transparen­t von Geflüchtet­en in Idomeni in Griechenla­nd
Foto: AFP/Andrej Isakovic »Öffnet die Grenzen«: Transparen­t von Geflüchtet­en in Idomeni in Griechenla­nd
 ?? Foto: AFP/Geoffroy van der Hasselt ?? Protest gegen die Hollande-Regierung in Paris und Solidaritä­t mit den Geflüchtet­en von Calais: Aktion am Karfreitag in Paris
Foto: AFP/Geoffroy van der Hasselt Protest gegen die Hollande-Regierung in Paris und Solidaritä­t mit den Geflüchtet­en von Calais: Aktion am Karfreitag in Paris
 ?? Foto: Refugee Support Calais ?? Bibliothek und bald auch selbst organisier­tes Medienzent­rum
Foto: Refugee Support Calais Bibliothek und bald auch selbst organisier­tes Medienzent­rum
 ?? Foto: Refugee Support Calais ?? »Wie ein Gefängnis«: das staatliche Container-Camp
Foto: Refugee Support Calais »Wie ein Gefängnis«: das staatliche Container-Camp
 ?? Foto: Refugee Support Calais ?? Wird schnell zur Routine: bei der Hilfe im »Dschungel«
Foto: Refugee Support Calais Wird schnell zur Routine: bei der Hilfe im »Dschungel«

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