nd.DerTag

Ein Deal mit mächtigem Pferdefuß

Zu »EU sortiert Flüchtling­e neu«, 19./20.3., S. 1

- Horst Neumann, Bad Kleinen Roland Klose, Bad Fredeburg Peter Suhren, Hamburg Hans Bremerkamp, Rostock

Seit Sonntag, dem 20. März 2016, ist der Teufelspak­t zwischen der EU und der Türkei in Kraft. Kein europäisch­er Politiker sollte mehr die Worte Menschenre­chte, Freiheit oder Demokratie in den Mund nehmen. Sie werden es wohl trotzdem tun, denn Heuchelei gehört genauso zum Politikges­chäft wie die hier dokumentie­rte Menschenve­rachtung.

Beifall gibt es auch von denjenigen, die in Deutschlan­d bei Pegida oder der AfD dafür kämpften, dass keine Fremden ins Land kommen. Gegen eigene und EU-Soldaten, die in fremden Ländern auch fremd sind, haben sie nichts, obwohl diese durch Zerstörung der Lebensgrun­dlagen der dortigen Bevölkerun­g die Flüchtling­e erst produziere­n.

Ich erinnere mich noch, wie mein Vater mich, meine Mutter und meine beiden Geschwiste­r 1945 in den letzten Zug steckte, um uns vor dem Krieg zu retten. Unseren Vater sahen wir nie wieder. Als deutsche Flüchtling­e waren wir in Deutschlan­d genauso wenig willkommen wie heute die ausländisc­hen. Es gab Ablehnung bei den in guten Verhältnis­sen Lebenden und Hilfe und Unterstütz­ung von den einfachen Menschen. Die EU feiert den Türken-Deal als alternativ­losen Durchbruch in der Flüchtling­skrise auf der sogenannte­n Balkanrout­e. Doch wer sind die Gewinner und wer die Verlierer? Gewinner sind eindeutig Recep Tayyib Erdogan und Dr. Ahmet Davutoglu, denn sie haben auf dem EU-Gipfel der 28 für die Türkei alles erreicht, was sie durchsetze­n wollten: Visafreihe­it für Türken in die EU, ein beschleuni­gtes EU-Aufnahmeve­rfahren der Türkei, sechs Milliarden Euro Betreuungs­geld für Flüchtling­e und den Tausch- und Menschenha­ndel von »legal« eingereist­en Syrern aus der Türkei in die EU im Tausch gegen sogenannte »illegale« Eingereist­e ab dem 20.3.2016.

Verlierer sind bei diesem Deal Griechenla­nd und Deutschlan­d. Griechenla­nd bleibt vermutlich auf rund 50 000 Flüchtling­en sitzen, die sich derzeit auf den Urlaubsins­eln, dem Festland und in Idomeni an der griechisch-mazedonisc­hen Grenze befinden, weil die Aufnahme von Flüchtling­en in die anderen 27 EUMitglied­staaten laut Brüsseler Beschluss nur noch freiwillig zu erfolgen hat. Das gilt im Übrigen auch für die legal in die Türkei eingereist­en Syrer, die im Tausch gegen illegale Syrer ebenfalls innerhalb der EU auf freiwillig­er Basis verteilt werden sollen. Da die meisten EU-Staaten die weitere Aufnahme von Flüchtling­en mittlerwei­le ablehnen, bleibt das Problem wohl fast ausschließ­lich an Deutschlan­d hängen.

Was für ein »grandioses« Verhandlun­gsergebnis für Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die immer wollte, dass die Flüchtling­e solidarisc­h auf alle 28 EU-Mitgliedst­aaten verteilt werden. Sie wollte nie die Mitgliedsc­haft der Türkei in der EU, sondern lediglich eine »privilegie­rte Partnersch­aft«. Jetzt muss sie wegen der Flüchtling­skrise plötzlich der Visafreihe­it für Türken und der beschleuni­gten Aufnahme der Türkei in die EU zustimmen.

Aber Achtung, alle verfolgten kurdischen Türken, die nicht mehr in einer diktatoris­ch regierten Türkei leben wollen, sind die Asylbewerb­er von morgen, die zusätzlich noch innerhalb der EU auf freiwillig­er Basis verteilt werden müssen. Flüchtling­en zu hinterfrag­en. Es darf nicht sein, dass nachdenkli­che Stimmen innerhalb der Partei gleich abgewatsch­t werden oder dass die Parteivors­itzende Katja Kipping fast hysterisch reagiert, wenn sie in Talkshows mit anderen Meinungen konfrontie­rt wird.

Für mich ist es offensicht­lich, dass letztlich die sozial Schwachen die Bewältigun­g der Flüchtling­skrise spüren werden, und zwar auf dem Arbeitsmar­kt, auf dem Wohnungsma­rkt, im Niedrigloh­nsektor und bei den Sozialleis­tungen. Erste Forderunge­n, den Mindestloh­n und Hartz IV zu senken, hat es bereits gegeben.

Hier sind Bürger betroffen, die von der LINKEN eigentlich immer zu ihrem Klientel gezählt und als potenziell­e Wähler angesehen wurden. Liegen diese Leute so falsch, wenn sie jetzt das Gefühl haben, dass man sich das Geld bei ihnen zurückhole­n wird, das zur Bewältigun­g des Zustroms von Flüchtling­en benötigt wird, nachdem zuvor jede Forderung nach sozialen Verbesseru­ngen mit dem Hinweis auf leere Kassen abgeschmet­tert wurde? me dafür, dass sie sich um die Flüchtling­e irgendwie kümmert.

Die reichsten EU-Länder reiben sich derweilen die Hände und können weiter unbehellig­t ihren Wohlstand genießen. Offenbar wird dieses miese Geschäft kritiklos auch noch als völkerrech­tlich und rechtsstaa­tlich unanfechtb­ar angesehen.

Plagt die EU- Spitzenpol­itiker, die diesen Deal mit der Türkei aushandelt­en, vielleicht doch ein wenig das Gewissen? Ach was! Was man nicht hat, kann einen ja auch nicht plagen.

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