Frankreich bleibt wachsam
Die Protestbewegung »Nuit debout« breitete sich in der ersten Woche ihres Bestehens vom Pariser Platz der Republik auf das ganze Land aus
Eine neue Protestbewegung treibt die französische Presse um. »Was verbirgt sich hinter der ›Nuit debout‹?« und »Wer sind die Chefs?« titelten die Zeitungen zur Besetzung des Platzes der Republik. Sonnenschein, Regenschauer und kühle Nächte – das wechselhafte Aprilwetter schreckt die mindestens 3000 Menschen, die seit nunmehr einer Woche den Pariser Place de la République füllen und besetzt halten, nicht. Abend für Abend kommen zumeist junge Menschen auf einem der bedeutendsten Plätze in der Hauptstadt Frankreichs zusammen, um gegen die geplante Reform des Arbeitsrechts zu demonstrieren. Die Protestbewegung mit dem Titel »Nuit debout« (etwa »Nacht im Stehen« oder »Die Nacht über wach«) war vor knapp einer Woche im Anschluss an eine Großdemonstration entstanden.
Längst geht es aber um viel mehr: Die Zusammenführung der Kämpfe in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen wird von vielen RednerInnen am offenen Mikrofon beschworen. Der linke Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Lordon – einer der prominenten Köpfe in einer Bewegung, die keine Chefs haben möchte – forderte die Versammelten bereits am Sonntag dazu auf, Menschen anderer soziale Milieus anzusprechen, um die Bewegung zu verbreitern.
Ein stärkerer Brückenschlag als bislang auch zu den Gewerkschaften und Lohnabhängigen sei nötig, betonen viele. Beschäftigten sei es nicht möglich an allen Aktivitäten der Platzbesetzung teilzunehmen – die Kommissionen »Aktion«, »Kommunikation«, »internationale Kontakte«, »Logistik« und andere beginnen teilweise schon am Nachmittag mit ihrer Arbeit. Anschließend gibt es die Vollversammlungen, die bis Mitternacht dauern.
So setzt sich die Mehrzahl der Protestierenden aus Studierenden, prekär Beschäftigten sowie Intellektuellen zusammen. Zu ihnen gehören auch Mathematiklehrer Mohammed oder Stéphane, ein Jurastudent, der sich auf Arbeitsrecht zur Verteidigung der Beschäftigten spezialisieren will. Zu ihnen gesellen sich Hunderte der »intermittents du spectacle«, die Prekären der Kulturindustrie, die in Frankreich nicht fest angestellt werden, aber in Zeiten ohne Auftritte Ansprüche auf Überbrückungsgelder aus einer gesonderten Arbeitslosenkasse haben. Wie alle zwei Jahre müssen die Künstlerinnen, Filmemacher oder Fernsehtechniker auch in diesem Frühling darum kämpfen, dass ihr Sonderstatus nicht abgeschafft wird. Der Arbeitgeberverband MEDEF und der rechtssozialdemokratische Gewerkschaftsverband CFDT einigten sich allerdings soeben auf eine Einschränkung ihrer Ansprüche.
Viele RednerInnen berichten aus ihrem Arbeitsleben. Doch auch eher anarchistische Linksradikale verkünden am Mikrofon oder auf Flugblättern, sie hielten grundsätzlich nichts von einem Angestelltenverhältnis und wollen sich deswegen gar nicht erst mit Einzelheiten der von der Regierung geplanten Arbeitsmarktreform auseinandersetzen. Den Applaus ernten jedoch andere, wie Jérôme, ein junger Arbeitsinspektor – diese Staatsangestellten müssen die Einhaltung der Arbeitsgesetzgebung in den Betrieben kontrollieren. Er sprach zusammen mit einem »Sans papiers«, einem Migranten ohne Papiere.
Sie werden sehr stark in die Bewegung einbezogen, die sich längst in ganz Frankreich ausgebreitet hat. Zu 24 französischen Städten existieren inzwischen Facebook-Seiten, darunter Rennes, Angers, Le Havre, Nîmes, Lyon, Toulouse. Dort versammelten sich nach den Demonstrationen vom vorigen Donnerstag und vom Dienstag jeweils mehrere Hundert Menschen, in Marseille über 1000. In Le Havre blockieren zudem die Hafenarbeiter seit Dienstag in Teilen der Stadt den Verkehr, um die soziale Bewegung gegen die »Reform« des Arbeitsrechts zu unterstützen.
Auch in Brüssel gibt es inzwischen eine »Nuit debout«. In der belgischen Hauptstadt wird mit dem Protest der Notstand zurückgewiesen, der seit den Attentaten vom 22. März mit einem Demonstrationsverbot einhergeht. Bürgerrechtsengagement ist aus der Sicht der InitatorInnen der Bewegung eine bessere Antwort auf den Terror als Ausgangsverbote und ein »starker Staat«.