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Sogar Müllhalden wurden durchforst­et

Geheimdien­stkarriere­n in Deutschlan­d – ein neues Buch von Helmut Müller- Enbergs und Arnim Wagner

- Von Wolfgang Schmidt

Diese Publikatio­n ist vor allem deshalb bemerkensw­ert, weil sie sich grundlegen­d von den Produkten der staatlich gesponsert­en Aufarbeitu­ngsindustr­ie zur Geschichte der DDR im Allgemeine­n und des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit der DDR im Besonderen unterschei­det. Ohne die einseitige Fixierung auf das MFS, ohne vorgegeben­en Propaganda­auftrag, ohne die Einteilung der Welt in Gut und Böse und auf seriöse historisch­e Forschung gestützt, werden mit den vorgestell­ten Biografien geschichtl­iche Abläufe in ihrer ganzen Komplexitä­t und gegenseiti­gen Bedingthei­t exemplaris­ch sichtbar.

Herausgege­ben wurde das Buch von Helmut Müller Enbergs, einer der bekanntest­en und profiliert­esten Wissenscha­ftler der Stasi-Unterlagen­behörde, und dem Militärhis­toriker Arnim Wagner. Zu ihren neun Ko-Autoren gehören der anerkannte Friedensfo­rscher und Geheimdien­stexperte Erich Schmidt-Eenboom und der durch sein beachtensw­ertes Buch zur »Kampfgrupp­e gegen Unmenschli­chkeit« (KgU) hervorgetr­etene Historiker Enrico Heitzer. Geschilder­t werden hier Lebensläuf­e der »zweiten Reihe« von Geheimdien­stmitarbei­tern, darunter nicht nur Spione nach klassische­r Vorstellun­g, sondern auch freie Nachrichte­nhändler, Propaganda­fachleute und Ministeria­lbeamte im Dienste geheimer Politik.

Die Auswahl der Porträts ist allein schon spannend und interessan­t. Sie verdeutlic­ht die ohne Gesinnungs­wechsel nach 1945 im Westen übliche Wiederverw­endung von faschistis­chen Geheimdien­stlern und Nazipropag­andisten im Kampf gegen den »Bolschewis­mus«, die Unterwande­rung z. B. des bayrischen Verfassung­sschutzes durch eine »Sonderverb­indung« der Organisati­on Gehlen, die geheimdien­stliche Verbandelu­ng der psychologi­schen Kriegsführ­ung des Bundesmini­steriums für gesamtdeut­sche Fragen, die Geschäftst­üchtigkeit eines Nachrichte­nhändlers, der zehn staatliche und fünf nichtstaat­liche Geheimdien­ste u. a. mit auf Müllhalden der Sowjettrup­pen in Österreich und selbst aus der Kanalisati­on gefischten Materials belieferte, die Karriere eines Mehrfachag­enten, die im besetzten Frankreich mit Kontakten zum Sicherheit­sdienst der SS begann usw. usf.

Geschilder­t wird der Werdegang von Heinrich von zur Mühlen alias Dr. Hoffmann, der in den besetzten Gebieten der Sowjetunio­n zunächst in einer SS-Einsatzgru­ppe an Beutezügen auf Akten und Kulturgüte­r beteiligt war und sich danach als Spezialist für psychologi­sche Kriegsführ­ung gegen die Rote Armee profiliert­e. Nach 1945 arbeitete er für den britischen Geheimdien­st, für die Organisati­on Gehlen und den mit ihr konkurrier­enden Friedrich-Wilhelm-Heinz-Dienst, bis er 1948 maßgeblich an der Gründung der KgU beteiligt war und deren Geheimdien­stsektion leitete. Dort unterhielt er auch Kontakte zu sogenannte­n Stay-behind-Netzwerken in der sowjetisch­en Besatzungs­zone, die in einem Kriegsfall im Rücken der sowjetisch­en Armee kämpfen sollten. 1951 wurde von zur Mühlen aus der KgU gedrängt, wobei es auch darum gegangen sein soll, ob den antikommun­istischen Widerstand diskrediti­erende Sabotage- und Gewalthand­lungen auf dem Territoriu­m der DDR zum Repertoire der KgU gehören sollten. Solche Skrupel kennt die bundesdeut­sche Justiz bis heute nicht; sie verteidigt noch immer die zweifelhaf­te Ehre der KgU-Terroriste­n.

Die Herausgebe­r bestätigen die Aussage der internatio­nalen HVAKonfere­nz in Odense 2007, wonach das MFS den Krieg der Geheimdien­ste gewonnen, den Kalten Krieg aber verloren habe. Allein die in diesem Buch skizzierte Biografie des Stellvertr­etenden Chefs des Militärisc­hen Abschirmdi­enstes der Bundesrepu­blik, der 1969 bis 1985 für das MFS gearbeitet hat und nur eine von mehreren hochkaräti­gen Quellen des MFS in den westdeutsc­hen Geheimdien­sten war, belegt diese Aussage anschaulic­h. 160 der zuletzt 180 Agenten des Bundesnach­richtendie­nstes in der DDR sollen vom MFS gegengeste­uert gewesen sein. Dass deren Auslands- und Gegenspion­age auch von Rückschläg­en begleitet war, zeigt das hier beschriebe­ne Schicksal des ersten Residenten der HVA in Frankreich, der schon nach zwei Jahren enttarnt wurde und erst nach mehr als acht Jahren Haft in französisc­hen Gefängniss­en ausgetausc­ht werden konnte. Die Schilderun­g des immensen Aufwandes, den das MFS betrieben hatte, um eine US-amerikanis­che Militärspi­onin in Dresden letztlich dann doch aufzuspüre­n, offenbart, wie langwierig und schwierig Geheimdien­starbeit häufig ist.

Dem Buch liegen umfangreic­he Quellenang­aben und Literaturh­inweise zugrunde, darunter – keines- falls selbstvers­tändlich – auch DDRLiterat­ur bzw. Publikatio­nen von Zeitzeugen aus der DDR. Nicht immer war die Quellenaus­wahl glücklich, z. B. wenn die infame Behauptung von Henry Leide kolportier­t wird, der Umgang mit NS-Tätern in der DDR sei »nicht durch den unbedingte­n Willen zur grundsätzl­ichen Ahndung von NS-Gewaltdeli­kten« bestimmt gewesen. Oder wenn ein gelungener Mordanschl­ag des MFS auf den »Fluchthelf­er« Michael Gartenschl­äger unterstell­t wird, obwohl die verdächtig­ten MFSAngehör­igen von bundesdeut­schen Gerichten in dieser Sache freigespro­chen wurden.

Die Herausgebe­r und Autoren profitiere­n von der weitgehend­en Freigabe der US-Geheimdien­starchive für die Nachkriegs­zeit und den bescheiden­en Einblicken in Archive der bundesdeut­schen Geheimdien­ste im Zusammenha­ng mit der Aufarbeitu­ng von deren braunen Vergangenh­eit. Alles in allem bietet das Buch Einblicke in wahrhaftig­e und lebendige Geschichte und ist nicht nur Insidern als lesenswert zu empfehlen.

Zuletzt sollen noch 160 BND-Agenten in der DDR vom MFS gegengeste­uert gewesen sein.

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