Die Hydra aus dem Schattenreich
Jürgen Roth beschreibt eine unheimliche gesellschaftliche Erosion – durch Geheimdienste und rechten Mob
Vor beinahe 40 Jahren erscheint in Mexiko der Roman »Das Haupt der Hydra«. Hoch politisch. Es geht darin um das Ölland Mexiko und die USA. Es geht um Öl- wie um Machtinteressen in Israel in Arabien in Mexiko. Geheimdienst, Doppelagenten agieren, konspirieren, spionieren in den Kulissen der internationalen Politik und Ökonomie. Sie verständigen sich mit der Hilfe literarischer Codes weltweit. Es wird geschoben, manipuliert, aus einem Schattenreich gesteuert. Einem Schattenreich, das weder zu erhellen noch zu zerstören ist. Das einer Hydra gleichkommt: Wird ihr ein Kopf abgeschlagen, wächst ein neuer nach. Der Autor dieses literarischen Thrillers ist im eigentlichen Sinn weder ein Journalist noch jemand der Sachbücher schreibt. Er heißt Carlos Fuentes und beschreibt die fortwährende Manipulation und Zerstörung gesellschaftlicher Strukturen. Mehr sei hier nicht verraten.
Vierzig Jahre später erscheint in Deutschland das Sachbuch »Der tiefe Staat«. Hoch politisch. Ebenso. Es geht um Deutschland und die Erosion, Zerstörung einer Zivilgesellschaft, die sich im Westen des Landes seit 1949, mühsam, gegen harte Widerstände und unter großen Schmerzen einigermaßen gebildet, geformt hat und das im Osten des Landes aus sehr nachvollziehbaren Gründen nach wie vor versucht. Ebenfalls unter Schmerzen und gegen harte Widerstände. Der Autor dieses notwendigen Buches, in dem bedrückende, bestürzende Inhalte entdeckt, zusammengeführt, strukturiert werden, ist anders als Carlos Fuentes kein Romancier, er ist Sachbuchautor und Journalist, der seit über 40 Jahren in den politischen und ökonomischen Kulissen Deutschlands recherchiert, wühlt, schließlich aufdeckt: Wie im »Spinnenetz der Macht« (Econ, 2013) und »Gazprom – Das unheimliche Imperium« (Westend, 2012).
Jürgen Roth schreibt in seinem neuen Buch weniger über Manipulation oder Vernichtung, er beschreibt mehr den unheimlichen Prozess einer gesellschaftlichen Erosion, den er als lange angelegt dokumentiert. Der sich historisch aufzeigen lässt und jenseits des Konservativen, reaktionär, nationalsozialistisch ist.
Der ohne einen äußeren Feind zur Zerstörung der deutschen Zivilge- sellschaft führen kann, die offensichtlich von immer mehr Menschen nicht nur kritisiert, vielmehr abgelehnt und bekämpft wird. In seinem bereits erwähnten Buch »Spinnennetz der Macht« hatte er bereits damit begonnen, die Zerstörungspotenziale in Deutschland klar zu legen. Wie die Zerstörung des Vertrauens in den Rechtsstaat, Behördenwillkür, die kaum oder wenig kontrollierte Macht der Banken, um nur einige Aspekte zu nennen. In »Der tiefe Staat« jedoch geht er weiter.
Zunächst zum Titel. Was ist das für ein Titel? Hajo Funke, der 2010 emeritierte Politikwissenschaftler der Freien Universität Berlin beschreibt ihn so: »Tiefer Staat meint für Deutschland: eine eigene Struktur, die nicht kontrolliert wird, die nicht rechtsstaatlich eingebunden ist, in der diese tiefe Struktur nach eigenen Opportunitäts gesicht spunkten handeln und walten kann. Ohne rechtsstaat- liche Einhegung und ohne Kontrolle durch die gewaltengeteilte Demokratie.« Roth übernimmt Funkes Definition vom tiefen Staat, der nur dann möglich sei, »wenn es, wie in Deutschland, eine gefährliche demokratiefeindliche Unterströmung in Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen.«
So legt Roth die Grundlage für seine Sondierung, wie die Demokratie unterwandert wird – »durch Geheimdienste, politische Komplizen und den rechten Mob«. In vier großen Kapiteln mit insgesamt 34 Unterkapiteln beginnt er mit »Der Staat und seine schmutzigen Geheimnisse« nach 1945 respektive nach 1949, als in der jungen Bundesrepublik viele Anhänger der Nationalsozialisten weiterhin aktiv waren – in den Behörden wie dem Bundeskriminalamt, den Landeskriminalämtern, in der Justiz, in den Geheimdiensten sowie in den konservativen Parteien. Sozialdemokraten und Kommunisten waren für jene Staatsfeinde, ehemalige NSDAP-Funktionäre, Wehrmachtsund SS-Offiziere hingegen galten als verdiente Stützen des Staates.
Besonders bedrückend ist das Kapitel »Die Fingerabdrücke des Staa- tes im Staate und der nationalsozialistische Untergrund (NSU)«. Vieles hat Roth an Material zusammengetragen und manches neu entdeckt. Er hat (wenngleich gelegentlich etwas holperig) eine historische Brücke gebaut von den 1950er Jahren in die Gegenwart hinein. Etwas sehr kurz kommen m. E. die rechten, nationalistischen Strömungen und Bewegungen in den westlichen Bundesländern. Gerade auch da gibt es diese rechtsradikale, demokratie- und fremdenfeindliche, fanatische, rassistische und gewalttätige Hydra, der die Köpfe scheinbar nicht abzuschlagen sind, wie die vergangenen 25 Jahre gezeigt haben.
Es gibt in Deutschland eine gefährliche demokratiefeindliche Unterströmung in der Gesellschaft. der Gesellschaft gibt. Diese bezieht ihre gewaltige Kraft aus einer steigenden Zahl von Bürgern am nationalkonservativen und rechtsradikalen Rand, die das demokratische System verachten und mit allen ihnen zur